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Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Aktenstück weg, er sah angeekelt den Kluge an, das heißt, er richtete seinen Blick etwa auf den obersten Knopf von Ennos Jackett und sagte mit erhobener Stimme: «Was denkst du dir eigentlich, du Schwein?» Plötzlich schrie er, aber man sah es ihm an, daß er ganz gewohnheitsmäßig schrie, ohne jede innere Erregung. «Denkst du, du kannst hier einen einzigen mit deinen dußligen Magenblutungen an der Nase rumführen?
    Ich werde dich zu einer Strafkompanie schik-ken, da werden sie dir deine stinkenden Gedärme aus dem Leibe reißen, da sollst du lernen, was Magenblutungen sind!»
    So schrie der Offizier noch eine ganze Weile. Enno war das vom Militär her gewohnt, es konnte ihn nicht besonders schrecken. Er hörte sich diese Strafpredigt an, die Hände vorschriftsmäßig an die Naht seiner Zivilhose gelegt, das Auge aufmerksam auf den Scheltenden geheftet.
    Mußte der Offizier einmal Luft holen, so sagte Enno im vorgeschriebenen Ton, klar und deutlich, aber weder demütig noch frech, sondern sachlich: «Jawohl, Herr Oberleutnant! Zu Befehl, Herr Oberleutnant!» An einer Stelle gelang es ihm sogar, freilich ohne jede sichtbare Wirkung, den Satz einzuschieben: «Melde mich gehorsamst gesund, Herr Oberleutnant! Melde gehorsamst, werde arbeiten!»
    Ebenso plötzlich, wie er mit dem Schreien begonnen hatte, hörte der Offizier wieder damit auf. Er machte den Mund zu, nahm den Blick von dem obersten Rockknopf Kluges und richtete ihn auf seinen Nachbar in Braun.
    «Sonst noch was?» fragte er angeekelt.
    Jawohl, auch dieser Herr hatte noch etwas zu sagen oder vielmehr zu schreien - alle diese Herren Vorgesetzten schienen ja nur mit ihren Leuten schreien zu können. Dieser schrie von Volksverrat und Arbeitssabotage, vom Führer, der keine Verräter in den eigenen Reihen duldete, und von den KZs, wo ihm schon sein Recht werden solle.
    «Und wie kommst du zu uns?» schrie der Braune plötzlich. «Wie haste dich zugerichtet, du Schwein, du? Mit solcher Fresse kommst du zur Arbeit? Bei den Weibern haste rumgehurt, du Hurenbock! Da läßte deine Kraft, und wir dürfen dich hier bezahlen! Wo biste gewesen, wo haste dich so zugerichtet, du elender Zuhälter, du?»
    «Mich haben sie durch die Rolle gedreht», sagte Enno, verschüchtert unter dem Blick des andern.
    «Wer, wer hat dich so zugerichtet, ich will's wissen!»
    schrie das Braunhemd. Und er fuchtelte mit der Faust unter der Nase des andern und stampfte mit dem Fuß auf.
    Hier war der Augenblick gekommen, wo jeder eigene Gedanke den Schädel Enno Kluges verließ. Unter der Bedrohung mit neuen Schlägen entliefen ihm Vorsatz wie Vorsicht, er flüsterte angstvoll: «Melde gehorsamst, die SS hat mich so zugerichtet.»
    In der sinnlosen Angst dieses Mannes lag etwas so Überzeugendes, daß die drei Männer am Tisch ihm sofort Glauben schenkten. Ein verständnisvolles, billigendes Lächeln trat auf ihre Gesichter. Der Braune schrie noch: «Zugerichtet nennst du das? Gezüchtigt heißt das, zu Recht bestraft! Wie heißt das?»
    «Melde gehorsamst, es heißt: zu Recht bestraft!»
    «Na, ich hoffe, du wirst es dir merken. Das nächste Mal kommst du nicht so billig weg! Abtreten!»
    Noch eine halbe Stunde danach zitterte Enno Kluge so stark, daß er seine Arbeit an der Drehbank nicht verrichten konnte. Er drückte sich auf dem Abtritt herum, wo ihn der Meister schließlich aufstöberte und scheltend an die Arbeit jagte. Der Meister stellte sich dann daneben und sah schimpfend zu, wie Enno Kluge ein Werkstück nach dem andern verdarb. In dem Kopf des kleinen Kerls drehte sich noch alles: vom Meister beschimpft, von den Arbeitskollegen verspottet, von Konzentrationslager und Strafkompanie bedroht, vermochte er nichts mehr klar zu sehen. Die sonst so geschickten Hände verweigerten ihm den Dienst. Er konnte nicht, und doch mußte er, sonst war er ganz verloren.
    Schließlich sah es selbst der Meister ein, daß hier nicht übler Wille und Arbeitsscheu vorlagen. «Wenn du nicht gerade krank gewesen wärst, würde ich sagen, leg dich erst ein paar Tage ins Bett und kurier dich gesund.» Mit diesen Worten verließ ihn der Meister. Und er setzte hinzu: «Aber du weißt ja wohl, was dir dann passiert!»
    Ja, er wußte es. Er machte immer weiter, versuchte, nicht an die Schmerzen, an den unerträglichen Druck in seinem Kopf zu denken. Eine Weile zog ihn das sich schimmernd drehende Eisen magisch an. Er brauchte nur den Finger dazwischen zu halten, und er hatte Ruhe, kam in ein Bett, konnte

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