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Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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aller Gefahr seine Tür öffnen.
    Frau Rosenthal hat es gar nicht gemerkt, daß sie auf der Treppe an jemand vorüberging. Sie hat nur den einen Gedanken, möglichst rasch die Wohnung mit Siegfried zu erreichen. Aber der HJ-Führer Baldur Persicke, der eben zu einem Morgenappell will, bleibt völlig verblüfft, mit offenem Munde auf der Treppe stehen, als diese Frau, ihn fast anstoßend, an ihm vorüberging. Die Rosenthal, die tagelang verschwundene Rosenthal an diesem Sonntagmorgen unterwegs, in einer dunklen gestickten Bluse oh-ne Judenstern, ein Schlüsselbund und ein Armband in der einen Hand, mit der andern sich mühsam am Treppengeländer hochziehend - so besoffen ist die Frau! Am frühen Sonntagmorgen schon so besoffen!
    Einen Augenblick steht Baldur noch so da, in völliger Verblüffung. Aber als Frau Rosenthal um die Treppenkehre herum verschwunden ist, finden seine Gedanken sich zurück, und sein Mund schließt sich. Er hat das Ge-fühl, jetzt ist der richtige Augenblick gekommen, jetzt darf er nur nichts falsch machen! Nein, diesmal wird er die Sache allein erledigen, weder die Brüder noch der Vater noch ein Borkhausen sollen sie ihm versauen.
    Baldur wartet noch, bis er sicher ist, daß Frau Rosenthal jetzt schon die Quangelsche Wohnung erreicht hat, dann geht er leise in die elterliche Wohnung. Dort schläft noch alles, und das Telefon hängt auf dem Flur. Er hebt ab und dreht die Scheibe, dann verlangt er einen bestimmten Apparat. Er hat Glück: trotz des Sonntags bekommt er die Verbindung und auch den richtigen Mann. Er sagt kurz, was zu sagen ist; dann rückt er sich einen Stuhl an die Tür, öffnet sie einen Spalt und macht sich geduldig darauf gefaßt, eine halbe oder auch eine Stunde Wache halten zu müssen, damit der Vogel nicht wieder entwischt ...
    Bei Quangels ist nur erst Anna wach, leise wirtschaftet sie in der Wohnung. Zwischendurch sieht sie nach Otto, er schläft noch immer ganz fest. Er sieht müde und ge-quält aus, selbst jetzt im Schlaf. Als ließe ihm irgend etwas keine Ruhe. Sie steht da und sieht nachdenklich in das Gesicht des Mannes, mit dem sie fast drei Jahrzehnte Tag für Tag zusammen gelebt hat. Sie hat sich längst an dieses Gesicht gewöhnt, das vogelscharfe Profil, der dünne, fast stets geschlossene Mund - das erschreckt sie nicht mehr.
    So sieht eben der Mann aus, dem sie ihr ganzes Leben geweiht hat. Es kommt nicht auf das Aussehen an ...
    Aber an diesem Morgen scheint ihr doch, als sei das Gesicht noch schärfer geworden, der Mund noch schmaler, als hätten sich die Falten von der Nase her noch mehr vertieft. Er hat Sorgen, schwere Sorgen, und sie hat es versäumt, rechtzeitig mit ihm darüber zu sprechen, ihm die Last tragen zu helfen. An diesem Sonntagmorgen, vier Tage, nachdem sie die Nachricht vom Tode des Sohnes bekommen hat, ist Anna Quangel wieder fest davon überzeugt, nicht nur, daß sie bei diesem Manne wie bisher auszuhalten hat, sondern daß sie auch im Unrecht war, überhaupt erst mit dieser Trotzerei anzufangen. Sie hätte ihn besser kennen müssen: er schwieg lieber, als daß er sprach. Sie mußte ihn stets ermuntern, ihm die Zunge lösen - von selbst sprach dieser Mann nie.
    Nun, heute wird er sprechen. Er hatte es ihr zugesagt, heute in der Nacht, als er von der Arbeit heimgekommen war. Anna hatte da einen schlimmen Tag hinter sich gebracht. Als er ganz ohne Frühstück losgelaufen war, als sie Stunden vergeblich auf ihn gewartet hatte, als er auch nicht zum Mittagessen erschienen war, als ihr klarwurde, jetzt hatte seine Arbeit schon begonnen, jetzt würde er bestimmt nicht mehr kommen - da war sie völlig verzweifelt gewesen.
    Was war in diesen Mann gefahren, seit sie jenes vorschnelle, unbedachte Wort gesagt hatte? Was trieb ihn so ruhelos um? Sie kannte ihn doch: Seitdem sie das gesagt hatte, sann er nur darauf, ihr zu zeigen, daß der nicht
    «sein» Führer war. Als wenn sie es je ernstlich so gemeint hätte! Sie hätte es ihm sagen müssen, daß sie das Wort nur im ersten trauernden Zorn gesagt hatte. Sie hätte auch ganz andere Dinge sagen können gegen diese Verbrecher, die sie so sinnlos des Sohnes beraubt hatten
    grade dieses Wort mußte ihr herausfahren!
    Aber nun hatte sie eben grade dies gesagt, und nun lief er in der Welt umher und begab sich in alle möglichen Gefahren, um recht zu behalten, um ihr das Unrecht, das sie ihm angetan, noch ganz handgreiflich zu beweisen!
    Womöglich kam er gar nicht wieder. Hatte etwas gesagt oder getan,

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