Jedes Kind ist hoch begabt: Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen (German Edition)
Universität und in der Wirtschaft, dass die Stärkeren die Spielregeln bestimmen. Es darauf ankommt, sich durchzusetzen, um jeden Preis. Das Fernsehen bestimmt unsere Wahrnehmung von dem, wie Leben zu sein hat. Immer besser sollen wir werden, immer schön sollen wir sein, schlanker, glücklicher, perfekter. In den sogenannten Talentshows geht es nicht darum, die Fähigkeit zu fördern, Beziehungen zu anderen Menschen zu bilden und zu pflegen. Es geht darum, andere klein zu halten, den Gegner auszuschalten, sich selbst am besten in Szene zu setzen. Das Gegeneinander zu üben und nicht das Miteinander zu pflegen.
Kinder aber sind wahre Meister des Mitgefühls. Sie ahnen, wie es dem anderen geht, sie lassen Schmerz zu, sie sehnen sich nach Berührung und wollen den anderen berühren. Sie haben ein sehr feines Gespür für Schwingungen. Sie beobachten genau. Sie bekommen mit, was den anderen bewegt, wie er sich fühlt, was los ist. Sie merken sehr genau, was ihrer Mutter und ihrem Vater wichtig ist, worüber sie sich begeistern, was sie bedrückt und bekümmert, was sie glücklich und zufrieden macht. Weil sie noch nicht sprechen können, achten kleine Kinder ganz besonders auf all das, was nicht gesagt wird: was also hinter den Worten verborgen bleibt. So spüren sie mehr, als ihre Eltern für möglich halten; sie bemerken sehr genau und prägen sich ein, was diese vor ihnen zu verbergen suchen oder was ihnen oft selbst nicht bewusst ist.
Vor ein paar Jahren führten Forscher ein in dieser Hinsicht bemerkenswert aufschlussreiches Experiment durch. Sie zeigten sechs Monate alten Babys drei kurze Trickfilmsequenzen. Die Kinder sahen zunächst ein kleines gelbes Männchen, das Mühe hatte, einen steilen Berg zu bezwingen. Schnaufend krabbelte es hoch. Anschließend lief die gleiche Sequenz noch einmal; diesmal kam dem gelben Männchen eine grüne Figur zu Hilfe, sie schob von unten. So kam das gelbe Männchen leichter den Berg hinauf. In der dritten Sequenz mühte sich das gelbe Männchen erneut ab, den Berg hochzukrabbeln, da tauchte plötzlich oben eine blaue Figur auf: Sie stieß den kleinen Strampler wieder nach unten. Nach dem Film wurden die grüne und die blaue Figur von den Kindern nebeneinander aufgestellt. Die Forscher waren gespannt, nach welcher Farbe die Kinder greifen würden. Alle Babys wählten die grüne Figur, den » Unterstützer«. Einer, der dem anderen hilft, war ihnen zutiefst sympathisch.
Ein halbes Jahr später wurde das Experiment wiederholt. Die Kinder waren nun ein Jahr alt und hatten sechs Monate Zeit gehabt, ihre Lebenswelt weiter zu erkunden. Erfahrungen zu sammeln. Zu schauen, wie ihre Eltern so sind, wie sie und andere Menschen reagieren. Nun wählten zehn Prozent der Kinder nicht mehr den » Unterstützer«, sondern den » Unterdrücker«. Es ist nicht näher untersucht worden, was sich bei diesen Kindern in den sechs Monaten verändert hatte, welche Erfahrungen sie inzwischen gemacht hatten, die dazu führten, dass sie sich jetzt mit dem » Unterdrücker« identifizierten. Man kann es aber erahnen.
Kein Kind überlebt die ersten sechs Monate seines Lebens, wenn es nicht umsorgt, geschützt, genährt und unterstützt wird. Das ist die erste Erfahrung, die jedes Kind macht. Anschließend nimmt es zunehmend wahr, wie es innerhalb seiner Lebenswelt zugeht, wie Eltern und Geschwister miteinander und mit ihm umgehen, ob es in der Familie einen Menschen gibt, der sich erfolgreich auf Kosten anderer durchsetzt. Für erfolgreiche Überlebensstrategien haben kleine Kinder einen sehr feinen Blick. Dass sie sich mit denen identifizieren und die Strategien derer übernehmen, die aus ihrer Perspektive besonders erfolgreich sind, ist allzu verständlich. Aber angeboren sind diese Verhaltensweisen und die diesen Verhaltensweisen zugrunde liegenden Haltungen nicht.
Wenn es nur die Bewegungs- oder Verhaltensmuster wären, die Kinder von wichtigen Vorbildern übernehmen, bestünde wenig Grund zur Besorgnis. Dann würden manche Menschen die Teetasse eben anders zum Mund führen. Oder anders laufen oder anders tanzen oder anders schwimmen, sich mit einer anderen Geste grüßen oder auf andere Weise einen gekochten Hummer essen.
Aber Kinder übernehmen eben nicht nur solche einfachen motorischen Handlungsmuster und Verhaltensweisen von ihren Vorbildern. Sie übernehmen auch Haltungen und Denkweisen. Wenn zum Beispiel ein bewundertes Vorbild durch das, was es sagt oder durch sein Handeln oder Auftreten
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