Jemand Anders
Umarmung, in die sie sich warfen, das Gesicht voran.
Entlarvung eines Bauernfängers , so heißt die Geschichte. Aber ich hatte immer das Gefühl, sie meinte weniger jene Schlepper, die naive Burschen vom Land in die Bordelle der Großstadt locken wollen, als vielmehr die Hohepriester aller Herren Länder.
Nein, ich werde kein Vermächtnis hinterlassen – wer würde es lesen, wer gar eine Schlussfolgerung daraus ziehen? Wir sind allesamt geprägt von dieser Kultur, dieser Unkultur, von der ersten Stunde an. Und schütteln wir auch mit viel Glück das eine oder andere Teufelchen aus unserem Pelz: das teuflische Grundmuster bleibt. Meine größte Furcht besteht darin, auf dem Sterbebett wieder schwach zu werden und nach einem Priester zu rufen; nach dieser lästigen Fliege, die sich auf der Hand niederlässt, die sie erschlagen will.
Dann hätte J. R. doch recht behalten: Einmal ein Pfaff’, immer ein Pfaff’!
*
Woran ich mich tadellos erinnere, als hätte es nie ein Schädel-Hirn-Trauma gegeben, sind die frühen Jahre. Mein Theologiestudium in Passau, die Wochenendausflüge in den Bayrischen Wald. Bei Arnbruck im Zellertal bin ich erstmals auf die Totenbretter gestoßen, eine makabre Attraktion. Ich konnte mich nicht sattsehen an ihnen. Eine Zeit lang bemühte ich mich sogar, jedes einzelne Brett fotografisch festzuhalten.
Was ihrem Sinn und Zweck natürlich diametral zuwiderlief. Aber das verstand ich damals noch nicht.
Mich hat die Einbettung des schlichten Holzes in ein für alle gleichermaßen gültiges Ritual fasziniert. Es war, als hätte sich Hofmannsthal hier die Inspiration für seinen Jedermann geholt.
Der Tote wird auf der Latte ein paar Tage lang aufgebahrt, nach dem Begräbnis versieht man sie mit den wichtigsten Daten des Verstorbenen und mit einem sinnigen Spruch. Später wird das bemalte Holz im Freien, oft am einstigen Lieblingsplatz des Verstorbenen, aufgestellt. Mitunter stehen die Totenbretter in kleinen Grüppchen zusammen, als wollten sie sich miteinander unterhalten. Wie eine Runde Raucher vor ihrer Stammkneipe.
Die Sprüche schildern, was der Tote im Leben geleistet hat, warum er unvergesslich ist. Meist läuft es darauf hinaus, dass er oder sie so selbstlos gearbeitet hat.
Sich zu Tode schuften als der Sinn des Lebens? Das fragte ich mich damals.
Heute sehe ich die Bretter in einem anderen Licht. Die Idee, dass die Seele des Toten erst dann Erlösung findet, wenn die Schrift auf dem Totenbrett völlig verwittert ist … Ich glaube, dass ich diesen Gedanken jetzt endlich begreifen kann: dass erst die Auslöschung, der Zerfall einen wirklich freisetzt.
*
Doch noch lebe ich.
Brennende Dornbüsche gibt es zuhauf in der Wüste. Auch ohne einen Jahwe, der aus ihnen spricht. Ob sie auf Dauer zu wärmen vermögen? Wer kann es wissen. Aber ich weiß jetzt, was zu tun ist. Worum ich mich zu kümmern habe.
Um Furat, den Feurigen; dass keiner ihm seinen Humor raubt.
Um Joy, die Zerbrechliche; dass niemand den gestohlenen Taser findet in einer geheimen Lade.
Und, allen voran, um Regina, meine Königin.
Ich muss endlich mit ihr darüber reden. Muss ihr meinen Fehltritt gestehen, das dumme Techtelmechtel mit Iris, auch wenn es wehtun wird, und sie um Verzeihung bitten. Vielleicht sagt sie mir dann auch, warum sie mein Handy versteckt hat, und was das Schutzengerl droben bei der Sautränke zu suchen hatte.
Dafür sorgen, dass die Tage wieder länger werden! Meine Tage, unsere Tage ... Aureus numerus nondum est plenus . Denn die goldene Zahl der Jahre, sie ist noch nicht voll.
Vielleicht sollte ich einfach einen Roman einpacken; keinen Krimi, eher einen sentimentalen Liebesroman, und mit Regina auf Urlaub fahren. Irgendwohin. Wir könnten einander daraus vorlesen, ein Kapitel pro Tag. Heut lese ich für dich, morgen du für mich, wie eine gegenseitige Massage. Es muss ja nicht immer Rilke sein.
Obwohl ...
Obwohl ich mich schon frage, was ich mit den Geschichten vom lieben Gott heute anfangen könnte, würde ich sie noch einmal durchblättern; die Bilder, deren Kraft mir einst sogar als Beweis galten für Ihn …
Epilog
Ich denke mir, man kann ja nie wissen, ob Gott in einer Geschichte ist, ehe man sie auchganz beendet hat. Denn wenn auch nur nochzwei Worte fehlen sollten, ja selbst, wenn nur noch die Pause hinter demletzten Worte der Erzählung aussteht:Er kann immer noch kommen.
Lang ist es her.
Ich habe Onkel Gerhard einen Ausflug versprochen. Der Onkel kann nur mehr im Rollstuhl
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