Jemand Anders
aufziehen, sind die Wände unserer Siedlung Muster an Ehrlichkeit. Seitdem sie meine geliebte Rotbuche gefällt haben, schönt nichts mehr diese schwarzgefleckten Mauern. Friede den Hütten, wie Onkel Charlie immer zu sagen pflegt. Können ja nichts dafür, dass irgendwelche Arschlöcher sie so entworfen haben. Hingeklotzt innerhalb eines feuchten Winters.
Papas Bruder war Stadtbaumeister, bis er ihnen zu kritisch wurde. Er weiß, wovon er redet, wenn er über die neuen Wohnblöcke herzieht, die überall in den Himmel schießen.
Diese Hasenställe sind schon verschimmelt, bevor sie bezogen werden ...
Früher mochte ich Charlie nicht, fand ihn zynisch. Jetzt verstehe ich ihn gut. Freiere, klarere Sicht, wie gesagt; auf miese Hasenställe und auch auf dich, Schwester Mond. Meine bleiche Schwester – so habe ich dich genannt, wenn ich auf unserem Balkon Zwiesprache hielt mit dir. Als dein Antlitz noch gesprenkelt war vom Blattwerk und Geäst eines Baums, der im Weg war. Der nicht ins Bild passte. Dessen Wert nur die erkennen, die eine hoffnungslos altmodische Einstellung haben zur Welt.
Das ist die nackte, beschissene Wahrheit.
Heute habe ich Bells Alte wiedergesehen. Sie hat mir in die Augen geschaut, selbstsicher wie eine Adelige. Früher wirkte sie ausgemergelt, mitgenommen. Das perfekte Opfer. Eine von denen, die sich ständig damit quälen, was sie alles falsch gemacht haben. Und genau das bringt mich zur Weißglut: dass wir immer die Schuld bei uns suchen! Dafür, dass irgendein Bell uns anbellt, schlägt, missbraucht.
Es ist gut zu wissen, dass Otto Bell das nie wieder machen wird. Dass zumindest Otto Bells Mops nicht mehr hopst ...
Adele Bell hat sich auf die Theke gestützt und einen Energydrink bestellt. Einen ganz großen , hat sie gesagt und gelächelt. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Ich habe ihr zugenickt wie einer alten Freundin. Dabei bin ich gut und gern dreißig Jahre jünger als sie.
Und sie hat zurückgenickt. Als wüsste sie, wie viel wir beide gemeinsam haben. Beziehungsweise gemeinsam losgeworden sind.
Der Einzige, der etwas ahnen könnte, ist Edgar, mein Chef. Was der mir unter die Nase gerieben hat in letzter Zeit ...
Man habe schon von manch komischen Unfällen in Fitnessstudios gehört; von Leuten, die in der Sauna zusammenbrechen, die Tür nicht mehr aufkriegen und einen Kreislaufkollaps erleiden. Oder von Solariumbesuchern, die zu Tode geschmort werden, weil die Sicherheitsbügel defekt sind. Sich selbst mit einer Langhantel umzubringen, das sei aber vor Bell noch keinem gelungen. Und wie er mich dann noch auf den Tag der offenen Tür angequatscht hat: Was macht eine junge Dame wie du bei so einer Veranstaltung? Womöglich hat er eine vage Vorstellung davon, wie es gelaufen ist. Eine sehr vage. Aber selbst wenn er es mit Sicherheit wüsste – ich würde mir keine Sorgen machen.
Nein, Edgar wird mich nicht verraten.
Ich habe das Glänzen in seinen Augen gesehen, damals, als sie Bell hinausgetragen haben. Vielleicht bin ich ihm sogar zum Vorbild geworden? Auch wenn er sich jetzt an nichts mehr erinnern kann – ich kann es! Ich habe zwar nicht gehört, was er mit Bells Kumpel zu besprechen hatte, aber er sah immer fürchterlich verspannt aus dabei.
Wer weiß, vielleicht ist ja auch Johannes Reichert nicht eines ganz natürlichen Todes gestorben?
Mitte Mai 2010
Der Mensch möchte immer besser sein, als er ist – ein an und für sich tröstlicher Gedanke. Bloß: Vermag er diesen Gedanken auch umzusetzen, ohne in ein noch größeres Übel zu schlittern? Selbst Mörder pochen gerne darauf, dass sie mit ihrer Tat etwas wieder einrenken wollten.
Wenn ich an all meine tollen Gelübde denke – allesamt angekündigte Revolutionen, die nicht stattfanden …
So wie der auf Büttenpapier gekritzelte Schwur, nie wieder masturbieren zu wollen. Wie alt warst du damals? Fünfzehn, sechzehn? Das teure Papier hast du extra dafür erstanden. Oder die angeblich letzte Packung Zigaretten: Mit einem mächtigen Brotmesser hast du jeden einzelnen der Sargnägel zerstückelt, und du hast dich großartig gefühlt dabei, als Kämpfer wider das Gift dieser Welt. Was ist geblieben von all dem?
Nackt betrachte ich mich im Spiegel. Mein hängender Bauch grinst mir entgegen. Okay, grinse ich zurück, schön, ich geb’s ja zu: Es-ist-alles-nichts-wert. Keiner von uns. Aber wozu dann dieser ungeheure Aufwand, sechzig, achtzig, hundert Jahre lang? Wenn doch eh alles in allem nichts zählt?
Eine
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