Jenseits aller Tabus
Nachbarn, sodass der Weg kaum einsehbar war.
Lucilles Leinentasche rutschte ihr von der Schulter, doch sie hielt sie im letzten Moment fest. Verzweifelt kämpfte sie gegen den Mann an. Sie schlug mit der Tasche nach ihm und schrie, aber seine Hand dämpfte ihre Schreie.
Sie nahm bereits die Panik wahr, die von ihr Besitz ergreifen wollte, doch so weit durfte sie es nicht kommen lassen. Daher bemühte sie sich, ruhiger zu atmen und die Kontrolle über sich nicht zu verlieren. Für den Moment wehrte sie sich nicht mehr und glaubte zu spüren, dass ihre unnatürliche Ruhe den Mann hinter ihr aus dem Konzept brachte.
Überrascht hielt auch er inne, wobei er ihren Mund freigab. Im nächsten Moment blitzte ein Jagdmesser in seiner Hand auf. Die hässliche breite Klinge glänzte in der Sonne.
Lucilles Schrei blieb ihr im Halse stecken. Sie versuchte den Reißverschluss ihrer Tasche aufzuziehen, aber er hakte. Verdammt, verdammt, verdammt!
Richard tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, wie er ihr einige Kniffe verriet, keine professionellen »Martial Arts«- Schläge und Tritte –, wohl aber einfache und effektive Selbstverteidigungsmaßnahmen.
Ihr Herz pochte so stark in ihrem Brustkorb, dass es wehtat, aber sie nutzte diesen Schmerz und wandelte ihn in Stärke um, denn wenn sie nicht endlich ernsthaft kämpfte, würde sie schrecklicheres Leid erdulden müssen – oder Schlimmeres. Genau wie Richard gesagt hatte, dass nicht der schnellste Schütze ein Duell gewann, sondern derjenige, der am besonnensten blieb, hatte er auch gemeint, dass bei einem Kampf Mann gegen Mann derjenige siegte, der am mutigsten und kompromisslosesten vorging.
Lucille nutzte das Überraschungsmoment. Blitzschnell packte sie die Hand des Angreifers, in dem er das Messer hielt, und rammte ihm so fest es ging ihren Ellbogen in die Rippen. Der Mann stöhnte gequält auf. Sein Körper wurde schlaff, aber er fing sich schnell wieder.
Keuchend sprang Lucille nach vorn, doch er packte ihre Haare. Brutal riss er sie zurück. Sie taumelte rückwärts und fiel über sein ausgestrecktes Bein. Ihr Rücken knallte auf den harten Beton der Garageneinfahrt. Geräuschvoll stieß Lucille die Luft aus ihren Lungen aus.
Einige Sekunden lang war ihr Blick getrübt. Als sie wieder klar sehen konnte, stand der Mann breitbeinig zwei Schritte vor ihr, das Jagdmesser erhoben. Eine schwarze Sturmmaske verbarg bis auf seine Augenpartie sein Gesicht.
Lucille bekam eine Gänsehaut. Wie von Sinnen riss sie am Reißverschluss ihrer Tasche. Er öffnete sich nicht, löste sich aber aus den Nähten. Der Riss scherte Lucille nicht, vielmehr zerrte sie an dem Leinenstoff, sodass das Loch noch größer wurde, und langte hinein. Ihr Körper bebte, sie zitterte wie verrückt. Als sie jedoch die Handfeuerwaffe zu fassen bekam, senkte sich eine wohltuende Ruhe auf sie herab, die es ihr ermöglichte, die SIG einigermaßen ruhig auf den Vermummten zu richten.
Doch er lachte sie aus, machte einen Schritt auf sie zu und schwenkte das Messer drohend.
Einatmen, ausatmen, befahl sich Lucille und betätigte den Spannabzug.
Das Lachen des Mannes verstummte. Er zögerte, kam dann jedoch so nah an sie heran, dass ihre Füße sich beinahe berührten.
Noch immer lag Lucille auf dem Boden. Sie stellte sich vor, wie Richard die Situation geregelt hätte. Vermutlich wäre der Angreifer längst tot. Nein, so wie er wollte sie auf keinen Fall werden. Was würde Craig tun? Den Fremden keinesfalls erschießen, sondern verletzen und der Polizei übergeben.
Eiskalt richtete Lucille die Pistole auf den Schritt des Mannes. Craig hätte wahrscheinlich auf sein Bein geschossen, aber Lucille wollte sich Respekt verschaffen und hoffte, erst gar nicht schießen zu müssen.
Angsterfüllt weiteten sich die Augen des Vermummten. Er drehte sich postwendend herum, zog sich beim Weglaufen die Maske vom Kopf und sprang in einen schwarzen Geländewagen, der Lucille nur allzu bekannt vorkam. Und nicht nur das Fahrzeug.
Da das Auto mit quietschenden Reifen davonfuhr, konnte sie nur einen kurzen Blick auf das Profil des Angreifers werfen. Es war der Mann, der sich als Alvaro Castillo bei ihr vorgestellt hatte.
Nun zitterte Lucille wieder so heftig, dass sie befürchtete, versehentlich den Auslöser zu drücken, deshalb steckte sie die 9-Millimeter, die über eine automatische Zündstiftsicherung verfügte, zurück in die Tasche.
Jetzt hatte sie den Beweis. Sie wissen, wo ich bin, und wollen mich zum Schweigen
Weitere Kostenlose Bücher