Jenseits aller Tabus
Wege gehen mussten, denn er würde ihr unter keinen Umständen wehtun, um an Informationen zu gelangen, weil er es schlichtweg nicht fertigbrachte, egal ob sie niederträchtige oder aufrichtige Absichten hegte.
Alles in seinem Inneren wehrte sich gegen ein klärendes Gespräch, da sie danach nicht mehr zusammen sein konnten.
Ein anderer Teil von ihm allerdings, den die beiden Schicksalsschläge in seinem Leben noch nicht verdorben hatten – der unschuldige Junge, den er sich bewahrt hatte, der Lügen für etwas Schlimmeres als Diebstahl hielt und sich über eine Prachtlibelle in seinem Garten mehr freute als über die steigende Gewinnkurve von Bellamy Ocean Carrier – sehnte eine erlösende Aussprache herbei. Dieser Narr glaubte sogar, die Scharade könnte immer noch ein gutes Ende finden.
Lucille nahm den Bilderrahmen mit dem Foto seiner Mutter und hielt es ihm hin.
»Woran ist sie gestorben?«
Mit dieser Frage hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Völlig perplex fragte er: »Warum willst du das wissen?«
»Du weichst mir immer aus, wenn ich etwas über dich erfahren möchte«, sagte sie und holte tief Luft, »verlangst aber im Gegenzug, dass ich dich über jeden Schritt, den ich mache, auf dem Laufenden halte.«
Damit hatte sie recht. Sein Ziel war es, so viel wie möglich von ihr zu erfahren und so wenig wie eben machbar von sich preiszugeben. Doch nun waren sie an einem Punkt angekommen, an dem Lucille nicht mehr mitspielte, ohne einen Köder von ihm vorgeworfen zu bekommen. Beiläufig streifte sein Blick die verblasste Tätowierung auf ihrem Bauch. Er sprach ungern über den Tod seiner Mutter, weil die Erinnerung alte Wunden aufriss, aber vielleicht machte es Lucille klar, mit welchen Monstern sie sich eingelassen hatte.
Ein jämmerlicher Versuch, sie zum Guten zu bekehren, tönte die nervige Stimme aus seinem Inneren. Eine Zeit lang hatte sie geschwiegen, und er hatte gehofft, sie wäre endgültig verstummt, denn der Hass, der in ihm schwelte, brannte ihn allmählich aus. Pech gehabt, sie hetzte ihn weiterhin auf, aber immerhin verlor sie an Kraft.
Craig atmete tief durch, ging zu Lucille und nahm ihr den Bilderrahmen aus der Hand. Eine Weile betrachtete er das Bild seiner Mutter Mildred. Hätte sie geahnt, dass sie in den USA ein grausamer Tod ereilen würde, wäre sie ihrem Mann sicherlich nicht von England nach Amerika gefolgt. Liebevoll strich er mit den Fingerspitzen über das Foto.
»Wir waren eine Bilderbuchfamilie. Meine Mutter liebte meinen Vater so sehr, dass sie ihre Familie im britischen Gardenrye zurückließ, und mein Dad vergötterte sie. Für ihn war sie seine persönliche Grace Kelly. Er sagte immer«, Craig fiel es unheimlich schwer, die Worte über die Lippen zu bekommen, »sie hat die Würde und den Stil, um ins britische Königshaus einzuheiraten, aber sie hat mich zum Ehemann genommen.«
»Wunderschön. Klingt wie die Familie, die ich nie hatte.« Lucille verschränkte ihre Arme unter ihrem Busen. »Entschuldigung, rede bitte weiter.«
»Mom war eine Heilige.« Er lächelte müde. »Die Krise kam, als mein Vater begann, in seinem Beruf seine Berufung zu sehen. Sein Job erforderte es, dass er viel reiste. Irgendwann sahen wir ihn kaum noch. Meine Mutter hatte mich, aber sie vermisste ihren Geliebten – die Gespräche, die Zärtlichkeiten. Außerdem sorgte sie sich um ihn.«
»Weshalb?« Lucille zog ihr Nachthemd an. Wenn es nach Craig gegangen wäre, hätte sie jede Nacht nackt in seinen Armen geschlafen.
»Die Straßen sind gefährlich.« Das stimmte natürlich, aber das Risiko in Ted Bellamys Berufsstand lag von Natur aus hoch, doch das vermied er tunlichst zu erwähnen. Craig setzte sich auf das Bett, weil seine Beine mit einem Mal puddingweich waren. »Sie sollte recht behalten. Er hätte zu Hause bei seiner Familie bleiben sollen, aber ich will ihm keinen Vorwurf machen. Mein Dad hat nur versucht, das Richtige zu tun. Außerdem wollte er, wie so viele Männer, seiner Familie etwas bieten können.«
»Eines Tages wirst du eine eigene Familie haben.« Lucilles Stimme klang sanft und leise, so einfühlsam, wie nur eine Frau klingen konnte.
Er sah sie an, während sie sich neben ihn setzte, und wünschte sich, ihr unter anderen Umständen begegnet zu sein. Möglicherweise hätte sie die Mutter seiner Kinder sein können. Doch wieder einmal spielte das Schicksal ihm einen bösen Streich, indem er sich ausgerechnet in eine Frau verliebt hatte, die er nicht haben konnte,
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