Jenseits aller Tabus
da sie auf verschiedenen Seiten standen.
Lucille legte eine Hand auf seinen Rücken, als wollte sie ihn stützen, damit er fortfahren konnte. »Du wirst dieses Haus mit neuem Leben füllen.«
Dasselbe hatte sein Dad zu ihm gesagt, nachdem feststand, dass Mildred Bellamy nie wieder heimkehren würde. Craig musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. »Warst du jemals in Palm Coast, einem traumhaft schönen Städtchen an der Ostküste von Florida?«
Sie schüttelte den Kopf, und er schwärmte weiter: »Es liegt genau zwischen Jacksonville und Daytona Beach. Ich war Anfang zwanzig. Schon früh am Morgen hätte man die Luft mit einem Messer in Scheiben schneiden können, also entschieden wir drei uns spontan, nach Palm Coast zu fahren, weil die Brise vom Atlantischen Ozean dort sehr stark ist. Wir parkten am Beverly Beach und spazierten am Strand entlang in Richtung City. Es war der achte August, ein Mittwoch, ich erinnere mich genau.«
»Hatte dein Vater Urlaub?«
»Dad hatte keine geregelten Arbeitszeiten. Im Grunde war er immer im Dienst, aber an besagtem Tag tat er etwas, das er sonst nie tat.« Erstaunlich, wie harmlos mancher Horror begann! »Er stellte sein Handy aus, obwohl er wusste, er würde Arger mit seinem Chef bekommen. Es schien ihm egal.«
Sachte streichelte sie über seine Wirbelsäule. »Er hat euch gezeigt, wie wichtig ihr ihm seid.«
»Dann hätte er kündigen müssen, aber er liebte seinen Job zu sehr. Wahre Hingabe, sozusagen.« Er beeilte sich, weiterzuerzählen, damit Lucille nicht nachhakte. »Am Pier von Palm Coast gibt es dieses hübsche Café mit der bonbonfarbenen Einrichtung. Im Eingang steht eine riesige künstliche Torte, die aussieht, als wäre sie aus Baiser und nicht aus bemalter Pappe. Mom liebte diesen Kitsch.«
»Und konnte nicht daran vorbeigehen, ohne ein Stück Kuchen zu essen.« Verständnisvoll lächelte Lucille.
»Wir saßen zwei Stunden am Fenster, schlugen uns den Bauch voll und vertrödelten die Zeit. Endlich hatten wir mal Zeit für uns, um zu reden, zu albern und eine richtige, normale Familie zu sein. Dass wir doch nicht so normal waren, merkten wir bald.« Seine Augen wurden feucht, aber immerhin bebte er nicht mehr bei der Erinnerung an den Schicksalstag. Eine stoische Ruhe überkam ihn. Er fühlte sich wie in einem Vakuum, gefangen zwischen damals und heute. Es geschah von selbst, wie ein Schutzschild, das einen erneuten Zusammenbruch verhinderte.
Lucille hielt sich am Bund seiner Jeans fest und rückte schweigend näher an ihn heran. Sie gab ihm Zeit, bis er bereit war, weiter über die Geschehnisse zu berichten, das rechnete er ihr hoch an.
»Mom musste die Toilette aufsuchen, also warteten Dad und ich am Strand auf sie. Übermütig zogen wir unsere Schuhe aus und wateten durch das Wasser. So gut hatten wir uns schon lange nicht mehr gefühlt. Alles war einfach perfekt.« Vor seinem geistigen Auge tauchte sein Vater auf, der ungeduldig auf seine Armbanduhr tippte, als befürchtete er, sie sei stehen geblieben. »Doch meine Mutter kam nicht. Wir gaben ihr mehr Zeit, beobachteten die Möwen und genossen die Brise. Als wir erneut auf die Uhr schauten, waren zu unserer Überraschung fünfzehn Minuten vergangen, und noch immer kein Zeichen von Mom.«
»War sie auf dem Klo ohnmächtig geworden?«, fragte Lucille und lehnte ihren Kopf an Craigs Schulter.
»Das befürchteten wir auch, daher liefen wir so schnell wir konnten zurück ins Café. Noch während ich die Kellnerin bat, das Damen-WC zu überprüfen, war mein Vater längst reingegangen und untersuchte jede einzelne Kabine. Wir fanden keine Spur von ihr.«
Mit gekrauster Stirn richtete sich Lucille auf. »Wie bitte? Das kann nicht sein. Jemand muss sie doch gesehen haben.«
»Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Die Kellnerin hatte beobachtet, wie meine Mom das WC betreten hatte, wusste aber nicht, ob sie herausgekommen war.« Der Anblick der leeren Damentoilette hatte sich auf bizarre Weise in sein Hirn gebrannt.
»Tatsächlich führte der Weg vom Restaurant zu den Toiletten weiter zur Hintertür, aber an dieser befand sich kein Hinweis auf einen Ausgang. Außerdem gab es keinen Grund, weshalb Mom abgehauen sein konnte. Noch in derselben Nacht, um genau drei Uhr dreißig, meldeten sich die Entführer.«
Neben ihm hielt Lucille die Luft an. Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. Ihr Mund öffnete sich, aber sie sagte nichts.
»Sie forderten Geld von meinem Vater, sehr viel Geld, mehr als er
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