Jenseits aller Tabus
geschnitten wie alle Agenten, sein Anzug saß tadellos. Nichts an ihm war suspekt, bis auf die Tatsache, dass er unangekündigt in ihrem Apartment gestanden hatte. Wie war er hereingekommen? Hatte Philipp ihm aufgeschlossen, nachdem Castillo sich als Special Agent ausgewiesen hatte? Oder besaß das Bureau einen Zweitschlüssel für ihre Wohnung, um sie besser überwachen zu können?
»Hat McCarthy Sie geschickt, um meine Sachen zu durchwühlen?« Aufgebracht stemmte sie ihre Hände in die Hüften. Das Federal Bureau of Investigation hatte nicht gewusst, dass Lucille mitten am Tag zu Hause sein würde, und musste davon ausgegangen sein, ihr Apartment leer vorzufinden. »Bin ich nun eine Verdächtige oder eine Zeugin? Ihr solltet euch langsam mal entscheiden.«
»Scht.« Er legte den Zeigefinger an seine Lippen. »Sie sollten zuerst die Tür schließen, bevor wir weiterreden.«
Er hatte ja recht, nur machte allein der Gedanke ihr Angst, dass ihr Fluchtweg versperrt sein würde. »Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»In Washington, D. C., aber das ist schon eine Weile her. Ich befand mich in Ihrem Penthouse in der Manson Avenue, als Sie verhaftet wurden. Bei dem Trubel damals ist es kein Wunder, dass Sie sich nicht an mich erinnern.« Sein Lächeln wirkte bemüht.
Lucille kam sich reichlich dumm vor. Seine Erklärung war wie aus der Pistole geschossen gekommen, daher konnte er sich diese Information wohl kaum ausgedacht habe. Es sei denn, er war ein guter Lügner.
»Haben Sie sich im Hause Bellamy eingewöhnt?«, fragte Castillo, als wollte er ihr beweisen, dass er noch mehr über sie wusste als ihre wahre Identität.
Sie krampfte ihre Hand um den Gürtel, der ihr Uniformkleid an der Taille zusammenraffte, und nickte.
Verschwörerisch senkte er seine Stimme. »Ich hoffe, Sie haben sich unauffällig verhalten.«
»Selbstverständlich.« Ihr Magen zog sich zusammen. Dies wäre ein guter Moment gewesen, um den Diebstahl, den man ihr in die Schuhe geschoben hatte, zu erwähnen, doch sie schwieg.
»Niemand weiß, wer Sie wirklich sind?«, hakte er nach und drehte den goldenen Siegelring an seinem Ringfinger.
Ihre Handtasche drohte von ihrer Schulter zu gleiten, rechtzeitig schob Lucille den Trageriemen höher. »Natürlich nicht.«
»Das ist gut, sehr gut.« Etwas veränderte sich an seiner Haltung.
Im ersten Augenblick konnte Lucille nicht deuten, was es war. Sie tippte auf Erleichterung. Entspannter als zuvor stand er vor ihr. Doch als er ihren Platz einnahm und sie in die Diele ihrer Wohnung drängte, ahnte sie, dass sein Besuch einen bestimmten Grund hatte, und dieser war nicht, herauszufinden, ob das Zeugenschutzprogramm gut anlief. Hatte McCarthy ihn geschickt, um sie in die Mangel zu nehmen, ohne dass Alex davon wusste?
Breitbeinig stellte sich Alvaro Castillo vor den Ausgang, grinste zufrieden und rieb über seine Oberlippe. Dabei spreizte er Daumen und Zeigefinger seltsam ab und führte seine Hand von der Nase bis hinab zum Mund.
Lucille kannte diese Geste von ihrem ehemaligen Arbeitgeber Alfie. Eine Weile hatte er einen Bart getragen und ständig über seinen Schnäuzer gerieben, um ihn zu glätten. Selbst nachdem er ihn abrasiert hatte, hatte er diese Marotte beibehalten. Die Macht der Gewohnheit. Hatte Castillo womöglich vor Kurzem noch einen Schnauzbart gehabt?
Er schloss die Wohnungstür – ganz langsam, als wollte er Lucille keine Angst einjagen, und erreichte damit genau das Gegenteil. Mit jedem Zentimeter, den der Spalt kleiner wurde, stieg das Gefühl der Bedrohung in Lucille. Sie kämpfte dagegen an, schließlich machte es den Anschein, dass Castillo tatsächlich ein Special Agent war. Wieso sah er sie dann so eindringlich an? Weshalb verschwand er nicht wieder, nun, da er erfahren hatte, dass alles in bester Ordnung war?
Als er erneut über seine Oberlippe strich, stieß er mit dem Arm gegen die Sonnenbrille, die aus der Brusttasche seines Jacketts lugte. Um sich von ihrer Angst abzulenken und herauszufinden, ob sie sich nicht doch an ihn erinnerte, stellte sie sich Castillo mit Schnauzbart und Sonnenbrille vor. So langsam, wie die Tür zuglitt, formte sich ein Bild vor Lucilles geistigem Auge.
Plötzlich wusste sie, woher sie den Mann kannte! Damals, als sie noch in D. C. gewohnt hatte, hatte sie ein paarmal gesehen, wie er zu Richard in die Limousine gestiegen war.
»Wer ist der Südamerikaner mit dem altmodischen Oberlippenbart?«, hatte sie Richard gefragt, als sie mit dem Lift
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