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Luegensommer

Titel: Luegensommer
Autoren: Alexandra Kui
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Prolog
    I m Winter, bevor sie starb, hatte Zoé eine Vorahnung. Es war brutal kalt, zehn Grad minus, Eisgang auf der Elbe. Packeis wie am Nordpol. Alle wollten Erinnerungsfotos und knipsten sich gegenseitig, während der Ostwind einem entweder Tränen oder ein seliges Grinsen ins Gesicht trieb, in ihrem Fall beides. Als sie die Bilder später am Rechner betrachtete, amüsiert über das verlogene Glück, das sie ausstrahlten, spürte sie, jemand würde eines davon in den Händen halten und um sie trauern, und das nicht erst in achtzig Jahren, sondern viel zu bald. Die Erkenntnis durchflutete sie wie ein Stromschlag. Sie löschte die entscheidende Aufnahme sofort, obwohl sie wusste, dass es keinen Unterschied machte. Zumal es sich um eine Kopie handelte.
    Wie gewöhnlich, wenn sie vor etwas Irrationalem Angst hatte – was selten vorkam, dann aber stets ziemlich heftig ausfiel –, versuchte sie, allein damit fertigzuwerden. Sie las ein Buch, das ihr gefiel, und hörte laut Musik, um das Donnergrollen des aufziehenden Schneesturms zu übertönen. Sie chattete mit einer Freundin in Hamburg. Nichts half.
    Als das Zittern ihrer Hände nach einer geschlagenen Stunde immer noch nicht nachgelassen hatte, ging sie ins Atelier, hungrig nach einer Umarmung, einem heißen Kakao und der Stimme ihrer Mutter, die ihr sagen würde, wie lächerlich das alles war – und zwar so, dass sie es glaubte.
    Doch der weitläufige Raum, einst ein Schafstall, war dunkel und kalt, das Holzfeuer im Kaminofen zu einer roten Glut zusammengesunken, die aussah, als würde sie atmen. Ihre Mutter war fortgegangen. Das ganze Haus verwaist. Also entschied sich Zoé für die zweitbeste Lösung: die Grasvorräte ihres Vaters, nachlässig versteckt in der Schublade mit seinen Socken. Zwar kifften ihre Eltern selbst schon lange nicht mehr, aber für Vernissage-Partys, wenn die ganze Künstlerclique aus der Stadt eintrudelte, hielten sie meistens einige Joints bereit. Ehrensache. Niemand sollte ihnen Bürgerlichkeit unterstellen. Dabei waren sie total spießig. Sie hatte Glück: Es war genug da, um sich bis zum nächsten Morgen aus dem Verkehr zu ziehen. Ein richtig guter Trip: Sie flog hinweg über ein Land, in dem Sommer war. Hitze. Krasse Farben. Als sie aufwachte, weil es erbärmlich zog, konnte sie sich an nichts erinnern. Weder daran, das Fenster so weit geöffnet zu haben, noch an den Grund, warum sie Marihuana geraucht hatte.
    Ansonsten hätte sie sich ein halbes Jahr später möglicherweise an diese Begebenheit erinnert, geahnt, in welcher Gefahr sie schwebte, und eingelenkt, solange sie noch die Chance dazu hatte. Dann wäre alles anders gekommen.
    So war sie einfach nur stinkwütend. Bereits als er neben ihr anhielt, sie überredete – nein, anbettelte – die Arbeit sausen zu lassen, um ihm Gesellschaft zu leisten, verspürte sie Lust, ihre Zigarette an seinem nackten Oberarm auszudrücken. Was sie natürlich nicht tat, da sie ihn viel zu sehr liebte. Jedenfalls redete sie sich das ein. Insgeheim fragte sich Zoé manchmal, ob sie überhaupt zur Liebe fähig war oder bloß ein egoistisches Miststück, dem es in erster Linie darum ging, den anderen zu besitzen. Leider gehören auch dazu immer zwei, das war ihr inzwischen klar. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt, er ließ sich nicht kontrollieren, schon gar nicht von ihr. Das verbitterte sie. Hallo – wer war er denn? Ein Niemand. Das sagten alle. Für wen oder was hielt er sie? Offenbar für ein Mädchen, das sich von einem Niemand abservieren lässt. Denn darauf schien es hinauszulaufen. Irrtum, mein Lieber, dachte sie, wobei sie ungewollt in den Jargon ihrer Mutter verfiel. Nicht mit mir.
    »Und«, fragte sie, nachdem sie eine Weile über die Landstraße gebraust waren, ohne dass er den Mund aufbekommen hätte. »Wohin fahren wir? Wenn du keinen verdammt guten Plan hast, geh ich lieber arbeiten. Das bringt mehr Spaß.« Das war nicht nur so dahingesagt. Sie mochte ihren Job als Pflegehelferin im Waldschloss-Seniorenheim. Nicht nur wegen der Trinkgelder, sondern auch weil die alten Leute schwer in Ordnung waren, jedenfalls die meisten.
    »Unser Fluss?«, schlug er vor, womit er ihr gleich wieder Hoffnungen machte. Er meinte nicht die Elbe, sondern einen Nebenarm der Oste, wo sie für sich allein waren. Unter prächtigen Silberweiden konnte man ungestört nackt baden – und alles Mögliche andere tun. Ein verwunschener Sehnsuchtsort, Natur wie gemalt, zufällig waren sie an einem sommerlich
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