Jenseits der Alpen - Kriminalroman
zurückkehren. Seit sie Olbia verlassen hatte – Perdindirindina! , sollte das wirklich erst gestern gewesen sein? –, begann sie nun zum ersten Mal, ihre Heimatstadt und die ganze Insel und das Meer zu vermissen. Die Farben waren so sanft und federweich, alles war ihr so vertraut. Hunderte kleiner Erinnerungen, auf die sie in diesem Augenblick nicht gefasst war.
Sie verschränkte die Arme und blickte nach links. Die offene Tür, der Schlund zum Abgrund. Noch immer rauschte der Zug vorüber, ein grauenhafter Ton. Als ob die Welt einstürzte. Was wohl mit dem Mann geschehen war? Sie war merkwürdig ungerührt. Ob er tot war oder lebendig, ihr war es egal. Gottesurteil. Sie konnte sich jedoch ausmalen, was wäre, wenn er einigermaßen heil zurückkäme. Er würde Sex von ihr verlangen. Va bene , soll er haben, beschloss sie. Es wäre ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Aber nicht ganz. Es dürfte nicht zum Äußersten kommen. Sie würde es ihm mit der Hand machen, vielleicht mit dem Mund. Nicht mehr.
Schnee fiel und hüllte alles in Schweigen. Perdinci! , der Zug war vorbei. Alles war wieder still. Selma war nicht in Sorge um den Deutschen. Sie war einfach neugierig, als sie auf den Fahrersitz hinüberrutschte und hinaussah.
Alles war finster. Sie konnte nichts erkennen. Weiter vorn quietschte ein Wagen. Es klang, als würde er abgehängt. Auch dicht unter ihr quietschte es. Doch in der Dunkelheit war sie wie blind.
Sie wendete sich der Konsole zu und hantierte in einem offenen Fach zwischen den Sitzen herum. Sie fand, was sie suchte: eine Taschenlampe. Die Uhr neben dem Fach zeigte zwanzig Uhr sieben. Nur Sekunden später nahm ein Bild draußen unter der Fahrertür Gestalt und Farbe an. Das Bild eines Menschen, der sich wie ein gekenterter Bootsmann an einen Gegenstand klammerte. Der jetzt mit halb geschlossenen, angsterfüllten Augen in den Lichtschein glotzte. Und unmittelbar darauf geblendet die Augen sofort wieder schloss.
Gollek lag zusammengekrümmt und mit Schnee bedeckt auf dem Flachwagen der Bahn und klammerte sich an den Stufen zur Fahrerkabine fest.
Tu hai fatto male? , fragte sie ihn. Hast du dich verletzt?
Er antwortete nicht. Stattdessen streckte er ihr wortlos und mit Flackern in den Augen den Arm entgegen.
Sie verzog das Gesicht. Für diesen einen Entschluss benötigte Selma Ruspanti keine Sekunde. Der Gedanke war verlockend. Sie konnte unbehelligt bis zur Endstation fahren und sich dort um eine weitere Mitfahrgelegenheit kümmern. Diesen ganzen Mist mit Sex und Geknutsche konnte sie sich sparen.
Im selben Augenblick schlug sie die Tür zu und verriegelte sie von innen.
* * *
Das Einzige, was er hören konnte, war sein Herz. Ihm war maßlos kalt. Er hatte nur Hemd und Unterhose an, und der Schneefall war stärker geworden. Ihm war bewusst, dass ihn nicht ein feindlich gesonnenes Schicksal, sondern der Sog eines entgegenkommenden Zuges aus der Tür gerissen hatte. Nun lag er hilflos wie eine Schildkröte auf dem Boden des Eisenbahnwaggons und flehte Selma mit den Augen um Hilfe an. Doch die verdammte Nutte half ihm nicht. Sie warf die Tür zu. Der Strahl ihrer Taschenlampe tanzte wie wild hin und her.
»Selma! Selmaaa!«
Der Zug hatte sich wieder schleichend in Bewegung gesetzt. Es zog auf der Plattform. Gollek hatte den Eindruck, erfrieren zu müssen, wenn er nicht bald ins Warme kam. Er schwang die Beine unter dem Körper hervor, stellte einen nackten Fuß auf die mittlere Stufe und zog sich an einem Arm empor.
Die Tür war verschlossen. Gollek hämmerte mit der freien Faust gegen die Fensterscheibe – ohne Erfolg. Die linke Seite schmerzte. Als er hingriff, spürte er warmes Blut.
Hinkend tastete er sich am Fahrzeug entlang. Er wollte auf die andere Seite. Seine Wut kochte von Sekunde zu Sekunde höher. Die verdammte Nutte würde ihn sterben lassen! Bald würde er durchdrehen. Er musste einen halbwegs kühlen Kopf bewahren, obwohl ihn irrsinniger Zorn übermannte.
Es war stockdunkel. Nur das Rattern der Räder war unter ihm zu hören. Blind tastete er sich voran. Immer wieder rutschte die Unterhose. Mit dem Ellenbogen klammerte er sie an der Hüfte fest. Warum eigentlich? Er ließ sie rutschen und strampelte sie mit den Füßen von sich. Der rechte Fuß stieß an etwas Weiches, mit dem anderen Fuß tastete er den Gegenstand ab. Es fühlte sich angenehm an und gab nach. Wie ein Bündel Federn. Dass es der Kadaver eines verunglückten Bussards war, sollte er erst später
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