Jenseits der Alpen - Kriminalroman
langsamer. Schließlich hielt der Zug. Gollek zog den Vorhang ein Stück zur Seite. Lichter von Dörfern. Und – es hatte angefangen zu schneien.
»Es schneit«, sagte Selma. Sie bewegte die Finger wie ein Marionettenspieler von oben nach unten.
»Ist doch egal«, sagte er. Er kam von hinten an sie heran. »Komm endlich her.«
Er versuchte wieder, ihre Hand in seinen Schritt zu legen. Sie wehrte sich. Er selbst konnte spüren, wie heiß es dort war. Mit einem Ruck zog er die Hose aus, mit einem weiteren Ruck und einem ungeschickten Strampeln auch die Unterhose. Sein Glied ragte weit ins Dämmerlicht.
Mit einem Mal musste er lachen. Sein Lachen bestand aus drei monotonen, tief eingezogenen Lauten. Er wiederholte dieses Lachen dreimal. Es klang nicht menschlich, eher wie der Lockruf des Nashornvogels. Sein Blick huschte über sie hinweg. Er konnte sehen, wie sie Angst bekam. Die Angst lag in ihren Augen, in ihrer Haltung. Ihre Angst war sogar an den Fingern zu erkennen, die sich in das Polster des Sitzes krallten.
»Du bist nicht gerade einfach, wie?«, sagte er, obwohl ihm klar war, dass sie ihn nicht verstand. Und auf einmal packte ihn der Zorn. Am liebsten hätte er ihr mit der Faust eine über den Kopf gezogen. Nur Scherereien hatte er mit dieser Italienerin. Er lag mit steifem Schwanz herum, und sie verbiss sich in den Sitz.
Noch immer stand der Zug. Das war ungewöhnlich, das hatte er auf seinen bisherigen Fahrten auf der RoLa noch nie erlebt. Er zog sich Unterhemd und Unterhose notdürftig über, kletterte nach vorn und schob mit einem Ruck die Fahrertür auf.
Sie wurde ihm aus der Hand gerissen, schlingerte auf und zu und schlug wie ein riesiger Hammer zurück gegen seine Schulter. Eine weiße wirbelnde Wand drohte ihn zu verschlucken. Er versuchte, sich am Türgriff festzuhalten. Scheiterte. Griff blind nach einem Gestänge. Griff daneben. Unter einem Lärm, der lauter war als tausend Höllen, wurde er in einem gewaltigen Sog nach draußen gezogen. Und fiel. Als ob er von einem Tsunami mitgerissen wurde. Er spürte einen stechenden Schmerz in der Seite. In all dem Lärm und Krach und dem Getöse konnte er sich mit letzter Kraft an irgendetwas klammern. Mit beiden Händen hielt er sich fest, bis das Getöse weniger wurde, in der Ferne verschwand und seine Fäuste und Knöchel nur mehr schneeweiße Knäuel waren. Er sah nach oben und wollte sich hochrappeln, doch dann schwanden ihm die Sinne.
* * *
Frierend schlang Selma beide Arme um den Körper. Sie musste mitansehen, wie der Körper des anderen wie von einem Magneten gezogen in einem tosenden Strudel aus Schnee und Sturm und Kälte im Freien verschwand. Der Sog des Zuges, der ihnen entgegengekommen war, hatte ihn nach draußen gerissen. Wenn ihr jemand das erzählt hätte, sie hätte es nicht geglaubt. Dass die Zugkraft einer schnell fahrenden Bahn in der Lage war, einen kräftigen Menschen zu verschlingen.
Der Mann war eine Sau. Und sie hatte Angst vor ihm. Wenn er nicht wieder zurückkommen würde, hätte sie nichts dagegen. Die Tür schlug gleichmäßig auf und zu und drohte aus den Angeln zu fliegen. Hereinstürmende Schneemassen trafen Selma mit voller Wucht. Der Zug auf dem anderen Gleis raste unbeirrt minutenlang, so schien es, in die Gegenrichtung. Ein Glück wenigstens, dass ihr eigener Zug noch stand, überlegte sie. Ihr Herz pochte wie eine Pumpe.
Sie hatte es gern getan. Sie war ausgehungert gewesen und hatte es genossen, auf dem Parkplatz mit ihm zu schlafen, bevor die Polizisten kamen. Vor ihnen hatte sie sich geniert, denn sie hatten mit wissendem Blick registriert, was geschehen war. Fernfahrer bumst Anhalterin. Doch sie war nicht so eine. Dass sie sich ihm hingegeben hatte, hatte andere Gründe gehabt.
»Etwas Schreckliches wird passieren«, hatte der mit dem Schnauzbart gesagt. Zuerst auf Deutsch, dann auf Italienisch. Qualcosa di orribile.
Was Nunzio wohl gerade machte? Hatte er sie als vermisst gemeldet? Oder hatte er ihre Abwesenheit einfach so hingenommen? Noch nie, seit sie zusammen waren, hatten sie Silvester getrennt verbracht. Immer hatten sie gemeinsam gefeiert. Dass ausgerechnet dieser besondere Silvesterabend das erste Mal sein musste …
Sie würde eine Zeit bei Marta in Billefelde verbringen, ein, zwei Wochen vielleicht, und abkühlen. Auf andere Gedanken kommen. Über sich und Nunzio wollte sie nachdenken. Dann würde sie mit ihm telefonieren, und wenn die Sache gut lief, ein, zwei Wochen später wieder zu ihm
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