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Jenseits der Alpen - Kriminalroman

Jenseits der Alpen - Kriminalroman

Titel: Jenseits der Alpen - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
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gehabt. Sie hatte es gewollt, sogar gebraucht, und es war guter Sex gewesen. Doch ganz geheuer war ihr dieser Mann nicht. Sie traute ihm nicht. Sie war froh, wenn die Fahrt zu Ende war und sie wieder aussteigen konnte. Doch vorerst war sie auf ihn angewiesen. Sie musste Ruhe bewahren.
    Er wollte, dass sie mit ihm in die Koje kam. Nein, das wollte sie nicht. Einmal Sex hatte ihr gereicht.
    »Wie lange werden wir auf der Bahn bleiben?«, rief sie nach hinten. »Wie lange dauert das?«
    Pause.
    Wieder einmal merkte sie, dass er ihre Sprache nicht verstand. Egal, wie lange es dauern würde, sie hatte keine Wahl, sie musste durchhalten.
    Draußen hörte sie Geräusche, Männer unterhielten sich. Aufgeregte Stimmen. Sehen konnte sie nichts. Er hatte die Vorhänge zugezogen.
    Sie merkte, wie der Zug sich in Bewegung setzte. Warum waren die Vorhänge zu? Sie fühlte sich wie eingesperrt. Auch die Innenbeleuchtung war ausgeschaltet. Welchen Sinn hatte das? Niemand würde sie unterwegs beobachten. Warum also die Verdunkelung? Sie zog den Vorhang auf ihrer Fensterseite zurück und sah hinaus. Noch immer die Lichter von der Autobahn schräg über ihnen, sonst absolutes Schwarz.
    Ein tiefes Knurren neben ihrem rechten Ohr rief sie in die Wirklichkeit zurück. Sie spürte eine heftige Berührung. Ein Arm schob sich an ihr vorbei und zog den Vorhang wieder zu.
    Selma Ruspanti bekam Angst. Sie konnte nichts sehen, und dicht neben ihrem Ohr spürte und hörte sie den rasselnden Atem des fremden Mannes. Ein herber Duft fiel über sie her. Ihr Herz pochte wie wild, und überall am Körper bildete sich frischer Schweiß.
    Nunzio! Sie wünschte sich, ihr Mann wäre bei ihr. Ja, sie war vor ihm weggelaufen, weil er sie schlecht behandelt und geschlagen hatte. Doch wenn es darauf ankam, hatte er sie immer behütet und beschützt. Genau das wünschte sie sich in diesen Minuten, einen Beschützer.
    Selma merkte, wie ihr langsam schlecht wurde. Es war ein schleichender Zustand, Sekunde um Sekunde etwas mehr. Nicht, dass sie sich hätte übergeben müssen. Es war vielmehr die Angst und die Ungewissheit, die in ihr bohrten und das Mark aus ihren Knochen fraßen. Sie presste die Augen zusammen, als müsste sie sich gegen grelles Licht wehren.
    Sie saß in ihrem Sitz und rührte sich nicht. Sie schien die Fähigkeit zu verlieren, sich zu bewegen. Die Arme waren eng an den Körper gequetscht, die Hände hatten sich im Sitz verkrallt. Das war’s, was sie am meisten quälte: dass sie sich nicht rühren konnte. Das machte sie wahnsinnig. Sie konnte nur ahnen, was der Mann hinter ihr tat oder vorhatte. Doch sie konnte ihn nicht sehen. Die Räder des Zuges rumpelten gleichmäßig vor sich hin.
    Obwohl sie kerzengerade in ihrem Sitz saß und den Rücken gegen die Lehne presste, hatte sie ständig das Gefühl zu fallen. Ein schwindelerregendes Fallen, das kein Ende nahm. War es nur eine Halluzination, dass sie meinte, das Bewusstsein würde ihr schwinden? Hing dieser Zustand mit der Dunkelheit zusammen? Als würde sie von innen heraus zerbröseln. Ihre Angst vor dem Ungewissen war im Begriff, ihren Körper und ihr Bewusstsein in Stücke zu hauen, bis sie nicht mehr zusammenhingen. Verzweifelt zwang sie sich, wach zu bleiben.
    Sie kannte die Symptome. Wenn sie besonders aufgeregt war, Angst hatte oder überschäumte vor Glück, tendierte sie dazu, ohnmächtig zu werden. Schon als Mädchen hatte sie immer wieder das Bewusstsein verloren. Und sosehr sie sich nun zwang, Ruhe zu bewahren und bei Sinnen zu bleiben – Vernunft und jede Normalität waren dahin. Der Schrei, den sie ausstoßen wollte, blieb ihr im Mund stecken.
    Sie bekam nicht mehr mit, wie ihre Zunge zwischen den Zähnen nach außen drängte und ihr Kopf zur Seite sackte, als sie endgültig das Bewusstsein verlor. Als sie später wieder aufwachte, hatte sie keine Erinnerung mehr daran, was mit ihr geschehen war.
    Sie hätte da, wo sie lag, ebenso gut neugeboren sein können.
    * * *
    Thorsten Gollek begann die Spannung zu fühlen, unter der Selma stand. Was er nicht fühlte, war die Angst, die sie zum Bersten brachte. Und dass sie das Bewusstsein verloren hatte, merkte er erst, als er den Gestank in die Nase bekam, dem er schon einmal begegnet war.
    Er verzog die Nase. Bevor er die Beleuchtung in seiner Koje anknipste, überlegte er, was ihn erwarten würde. War sie wieder ohnmächtig geworden wie auf dem Parkplatz, als die Polizei eintraf? Hatte ihr Ausrasten mit Angst zu tun? Doch wovor

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