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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Tochter. Sie brachte ihr Pferd Seite an Seite mit Westwind und ihre langen roten Haare flogen ihr ums Gesicht wie Flop seine schwarzen Ohren.
    »Ich hab dir immer gesagt, mein Ostwind ist schneller als dein Westwind«, sagte sie. »Moment, aber ihr seid ja zu zweit! Warum habt ihr dieses Rennen mit mir veranstaltet? Sie haben mich losgeschickt, damit ich dich zum Mittagessen hole, Lasse. Keiner wusste, wo du warst.«
    »Mittagessen?«, fragte ich. Es dauerte eine Weile, bis mir einfiel, was dieses Wort bedeutete. »Ich dachte, du wärst etwas anderes«, fügte ich hinzu.
    »Was?«, fragte Almut neugierig und lenkte Ostwind näher an uns heran. Ostwinds Mähne hatte dieselbe Kastanienfarbe wie Almuts wilde Haare. »Was, dachtest du, bin ich? Und wer ist das?«
    »Das«, sagte ich stolz, »ist mein Freund Joern.«
    »Ach, hallo, Joern!«, sagte Almut. »Ich bin Almut, aber Lasse hat dir vermutlich schon alles über mich erzählt. Wie ich ihn immer nerve und dass es viel schöner ist, ohne mich im Wald herumzustreunen und nicht zum Mittagessen zu kommen.« Sie grinste breit. »Isst du auch mit uns zu Mittag?«
    »Ich weiß nicht, wie es die Leute vom Norderhof finden, wenn plötzlich einer mehr an ihrem Tisch sitzt«, sagte Joern. »Ich glaube, ich sollte nach Hause gehen.«
    »Unsinn!«, rief ich. »Was macht es aus, ob einer mehr oder einer weniger am Tisch sitzt? Bei den Mengen, die Almuts Mutter kocht, könnte eine Armee zu Besuch kommen und das Essen würde immer noch für alle reichen.«
    »Aber vielleicht«, sagte Joern leise, »geht es nicht ums Essen. Vielleicht wollen sie nicht mit einem am Tisch sitzen, der aus der Schwarzen Stadt kommt. Wo sie sich jahrelang so viel Mühe gegeben haben, alle in der Stadt davon zu überzeugen, hier wäre ein militärisches Sperrgebiet.«
    »Aus der Schwarzen Stadt?«, fragte Almut, und als sie die Worte wiederholte, klangen sie so schaurig und schön wie der Name, den ich dem Finsterbach gegeben hatte. Aber doch mehr schaurig als schön. Ein Teil von mir wollte die Schwarze Stadt unbedingt sehen, sofort, während ein andererTeil von mir hoffte, dass meine Füße ihren Boden nie, nie betreten würden.
    »Die Schwarze Stadt liegt jenseits der Mauer«, erklärte Joern. »Unter einer Glocke aus Kohlenstaub. Mein Bruder Onnar ist einer von denen, die die Kohle aus dem Berg auf der anderen Seite der Stadt holen. Die Kohle und den Nachtspat. Eine Menge Leute arbeiten im Bergwerk. Neben den Stollen steht die Fabrik, wo sie den Nachtspat schleifen und verarbeiten, und dort arbeiten auch eine Menge Leute. Aber soviel sie auch arbeiten, sie verdienen nie genug Geld, um glücklich zu sein.«
    Almut machte den Mund auf und ich sah, dass sie tausend Dinge fragen wollte. Ich wollte ebenfalls tausend Dinge fragen. Doch da schimmerte schon das Weiß der Häuser vom Norderhof durch die Bäume und kurze Zeit später waren wir dort.
    Frentje stand in ihrer Tür, eine große blau-weiß gestreifte Schürze umgebunden, und winkte. »Da bist du ja, Lasse!«, rief sie. »Wir dachten schon, du wärst ganz und gar verschollen!«
    An normalen Wochentagen aß ich bei Frentje, Olaf und ihren Kindern zu Mittag. Olaf war Almuts Vater und unser Gärtner. Er kümmerte sich um den riesigen Gemüse- und Kräutergarten und die Blumenbeete vom Norderhof und Flint sagte, er hätte einen grünen Daumen. Das heißt, dass alles wuchs und gedieh, was er anfasste.
    Wir rieben die Pferde ab, deren Fell glänzte vom Schweiß, und Frentje kam über den Hof. Ich dachte, sie würde sagen,wir sollten uns beeilen, weil das Essen kalt würde. Aber sie sagte gar nichts. Sie sah nur Joern an, lange und gründlich, so als suchte sie etwas in seinem Gesicht. Joern blickte zu Boden. Ich wusste, was er dachte. Er dachte: Sie möchte nicht, dass ich mit zu Mittag esse. Sie möchte nicht, dass ich hier bin. Sie spürt, dass ich aus der Schwarzen Stadt komme.
    »Das ist mein Freund Joern«, sagte ich ganz schnell. Und ich fürchtete fast, Joern würde sagen: »Na ja, nur ein Bekannter.« Doch er sagte es nicht. »Er kann doch mit uns essen? Er kommt von jenseits der Mauer und ist schon mit mir auf Westwind geritten und …«
    »Wie bist du über die Mauer gekommen?«, fragte Frentje. »Und wie über den Fluss?«
    »Wusstest du davon?«, fragte ich zurück. »Davon, dass dort überhaupt kein Wald voller Minen ist?«
    Frentje antwortete nicht. Ihr rundes, freundliches Gesicht war mit einem Mal sehr ernst. So ernst hatte ich es noch nie

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