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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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dachte Joern, hatten die Besitzer der Augen genauso viel Angst wie er selbst. Ob sie Ausschau nach dem Kjerk hielten, der in ihren Wald gekommen war, um alles zu verändern?
    Joern erreichte die Mauer, ohne irgendwelchen Fabelwesen mit blauen Federn zu begegnen. Kurz darauf trug er Flop über die Brücke aus Fichtenstämmen. Es schien ihm unendlich lange her, dass er und Lasse sie gebaut hatten. Dabei war es erst an diesem Morgen gewesen. Flop schnarchte auf seinen Armen ein winziges Hundeschnarchen und der Mond beleuchtete Joerns Weg über den Finsterbach. Er sah erst hinab, als er sicher drüben angekommen war. In der Tiefe spielte das Mondlicht auf dem schwarzen Wasser und die Felsen glänzten feucht wie große, glitschige Tiere.
    »Die Todesschlucht«, murmelte Joern.
    Lasse hatte sie so genannt. Lasse hatte eine Vorliebe für große und abenteuerliche Namen. Lasse, dachte er, Lasse, mein Freund. Joern lächelte. Er fand sein eigenes Rad noch immer an den Baum gelehnt. Da es keinen Korb besaß, legte Joern sich den schlafenden Flop über die Schulter wie einen Schal. Dann fuhr er los.
    Die Schwarze Stadt war nachts eine weiße Stadt. Sie leuchtete Joern mit Millionen von grellen, künstlichen Lichtern entgegen – Straßenlaternenlichtern und Schaufensterlichtern. Und ein wenig erhöht, über allem thronend, glühten die Lichter des Bergwerks und die der Fabrik. Doch es waren weniger Lichter als sonst. Denn dort streikten sie jetzt.
    Wie viele von ihnen waren Onnars Ruf gefolgt? Wie viele waren mutig genug?
    Der Wind fegte kalt durch die grellen Straßen. Und nachder Stille des Waldes konnte Joern das hohe Sirren der Elektrizität hören. Hier gab es keine Kjerks, keine gelben Augen, keine wispernden Blätter. Und dennoch war Joern unheimlicher zumute als im Wald.
    Erst als er die Wohnungstür aufschloss und in den winzigen Flur trat, atmete er auf. Es roch nach Zwiebeln, Waschpulver und verbrauchter Luft. Joern legte Flop in seinen Korb neben der Kommode. Wie spät mochte es sein?
    Er öffnete die Tür zur Küche und dort saß Mama ganz allein am Tisch, der für sie alle zu klein war. Jetzt wirkte er riesig. Mama hatte die Arme auf der Tischplatte ausgestreckt und den Kopf daraufgelegt. So war sie eingeschlafen.
    »Sie hat auf mich gewartet«, flüsterte Joern. »Sie hat sich Sorgen gemacht.«
    Er bekam ein fürchterlich schlechtes Gewissen, so schlecht, dass es ihn ganz ausfüllte. Er rannte den ganzen Tag in einer Welt voller Sonnenschein und Abenteuer herum und hier arbeitete Mama in der Fabrik und kochte und wusch Wäsche und wartete auf ihn. Er berührte sie ganz leicht an der Schulter.
    »Mama«, sagte er leise. »Ich bin es, Joern! Ich bin zurück!«
    Da hob sie den Kopf und blickte ihn an. Er konnte sehen, dass ihre Augen verweint waren. Sie stand auf und sie umarmten sich schweigend.
    »Mein Kleiner«, sagte Mama, so wie sie es früher gesagt hatte. »Du bist groß geworden. Fast größer als ich, siehstdu?« Und sie lachte ein wenig, doch in ihrem Lachen war zu viel Sorge. »Ich will dich nicht verlieren«, sagte sie. »Noch nicht.«
    »Keine Angst«, sagte Joern mit trockener Stimme. »Ich komme immer wieder zurück. Ich bin nicht so wie mein Vater.«
    »Nein«, sagte Mama leise, »das bist du nicht.« Sie seufzte. »Ich wünschte, euer Vater wäre jemand anders gewesen«, sagte sie dann. »Jemand, der für euch da ist. Es tut mir leid.«
    »Muss es nicht«, sagte Joern. »Wir haben doch dich.«
    »Nein«, sagte Mama, »das habt ihr nicht. Ich arbeite den ganzen Tag.«
    Sie stand auf und löschte das Licht. Eine Weile saßen sie gemeinsam am stillen Küchentisch und sahen in die Dunkelheit.
    »Woran hast du gedacht, als du gewartet hast?«, fragte Joern.
    »An jemanden, den du nicht kennst«, antwortete Mama. »Jemanden, an den ich immer in der Dunkelheit denke.«
    »An wen?«, fragte Joern. Er wusste, dass sie nicht antworten würde.
    »Wo immer du warst, Joern«, sagte sie. »Geh nicht wieder dorthin.«
    Vermutlich dachte sie, er hätte mit irgendwelchen Typen herumgehangen, denen man nicht über den Weg trauen konnte. Sie hatte ja keine Ahnung.
    »Nein«, sagte Joern. »Ich gehe nicht wieder dorthin.«
    Und als sie die Suppe noch einmal für ihn aufwärmte und als sie ihm keine einzige Frage stellte, da wusste er bereits, dass er gelogen hatte.

Edel sein
    A m nächsten Morgen erwachte Joern davon, dass seine Brüder im Flur stritten.
    Er kämpfte gegen die bleierne Schwere seiner Lider, öffnete

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