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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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die Augen und versuchte, schnell und ganz aufzuwachen. Durch das winzige Fenster seiner Kammer fiel graues Morgenlicht.
    »Du musst verrückt sein, alleine zu gehen«, sagte Damian.
    »Übergeschnappt«, sagte Dirk.
    »Nicht ganz rund im Kopf«, sagte Dario.
    »Wenn du da hingehst, kann man dir nicht helfen«, sagte Dennis.
    Ihre Stimmen waren höher als sonst, aufgeregt, beunruhigt. Joern setzte sich im Bett auf.
    »Jetzt macht aber mal halblang«, sagte Onnar, offenbar nicht zum ersten Mal. Seine Stimme war ganz ruhig und er sprach so bedächtig wie stets. »Sie wollen reden. Genau das ist es, was auch wir wollen. Reden. Wir wollen verhandeln. Das ist der Sinn.«
    »Und wenn es eine Falle ist?«, fragte Dennis, der jüngste der vier D.
    »Sicher!«, erwiderte Onnar. »Sie werden mich durch eine Hintertür in ein dunkles Verlies werfen, wo mich ein Feuer speiender Drache bewacht.« Er lachte sein tiefes Onnar-Lachen, so wie früher, wenn Holm seine Grimassen gezogen hatte. Doch jetzt klang das Lachen falsch, unecht.
    »Ich werde jetzt Joern wecken«, sagte Onnar, »damit er zur Schule geht. Und ihr vier tut, was immer ihr sonst auch tut. Schlagt euch aus dem Kopf, dass ich euch zur Fabrik mitnehme.«
    »Du kannst uns gar nicht daran hindern, mitzugehen«, sagte Damian.
    Eine Weile schwiegen sie im Flur und Joern konnte sich gut vorstellen, wie Onnar seinem Bruder einen Blick zuwarf. Nicht hindern? Lächerlich.
    »Du brauchst Joern nicht zu wecken«, sagte Dennis jetzt. »Er geht sowieso nicht zur Schule. Gestern Morgen habe ich ihn auf seinem Rad gesehen, ziemlich weit weg von der Schule. Er fuhr wie ein Besessener.«
    »Dann wollen wir hoffen, dass du hingehst«, sagte Onnar, der es nicht mochte, wenn Leute petzten. Gleich darauf stand er vor Joerns Bett.
    »Joern«, sagte Onnar leise. »Wo warst du gestern?«
    »Ich war weit, weit weg«, flüsterte Joern. »Und doch ganz nahe. Onnar, ich glaube, ich war in einer anderen Welt. Da gab es einen Fluss, der Finsterbach hieß, und er führte über eine Todesschlucht … Es gab auch eine Mauer, dahinter warteten eine unendliche Menge Abenteuer und Schafweiden und sonnige Lichtungen mit wisperndemGras … und Leute, die dauernd lachten. Es war so schön, Onnar.«
    »Du hast geträumt«, sagte Onnar.
    »Ja«, flüsterte Joern, denn wie sollte er es Onnar erklären? »Ja, es war nur ein Traum. Aber, Onnar – er war so wirklich! So wirklich, als müsste er eines Tages wahr werden!«
    »Heute wird wahr«, sagte Onnar, »dass du in die Schule gehst. Und ich möchte hinterher von irgendwem hören, dass du tatsächlich dort angekommen bist, verstanden?«
    Joern schlüpfte in einen Pullover und sah seinen Bruder an. Onnar war am Fenster stehen geblieben und blickte nachdenklich hinaus. »Onnar?«, fragte er. »Bist du sauer?«
    Da drehte Onnar sich um und wuschelte seinem kleinen Bruder durchs Haar. »Nicht auf dich«, sagte er und verließ Joerns winziges Schlafzimmer.
    Während Joern in seine Hose stieg, dachte er darüber nach, auf wen Onnar sauer war. Auf die vier D? Auf Pöhlke, der nie etwas für die Arbeiter tat? Auf den Großen, den Besitzer des Bergwerks, der sich nie blicken ließ? Auf die Unter- und Unterunterchefs, die anstelle des Großen bestimmten? Auf die ganze Schwarze Stadt? Auf die ganze Schwarze Welt?
    »Aber in der Schwarzen Welt gibt es einen grünen Wald«, murmelte Joern und trat selbst ans Fenster. »Einen grünen Wald und Pferde, die Westwind und Ostwind und Nordwind heißen, und einen Kjerk …«
    Gab es sie? Oder hatte er von ihnen wirklich nur geträumt?
    Er fand in seiner Hosentasche einen kleinen runden Gegenstand und holte ihn hervor: den Ring mit dem Stück Nachtspat. Joern hielt ihn vor die Augen und sah hindurch, sah über die Dächer der Schwarzen Stadt – und lächelte. Die Stadt war bunt und schön, so schön wie die Welt seines Traumes. Glitzernde Farben bedeckten ihre Dächer und ein ganzer Schwarm von Regenbogen bevölkerte den Himmel. Joern nahm den Ring wieder von den Augen und ging in die Küche.
    Der Ring und die andere Welt, die andere Welt und der Ring. War es Zufall gewesen, dass er den Ring am selben Tag gefunden hatte wie das Loch in der Mauer? Er würde ihn Onnar nicht zeigen. Noch nicht. Zuerst musste er herausfinden, was die eingravierten Buchstaben bedeuteten.
    In der Küche saßen sie schon um den Tisch und tranken dünnen Kaffee: Dennis und Dirk und Dario und Damian und Mama. Flop sprang auf Joerns Schoß, als er sich

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