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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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mein Vater noch einmal und drückte mich fest an sich, sodass die Wolle seines Pullovers mich in der Nase kitzelte. »Ich suche euch seit einer ganzen Weile. Ich habe mir Sorgen gemacht.«
    Ich sah zu ihm auf. War er böse auf mich? Nein, er sah eher erleichtert aus als böse. Seine hellen Augen blickten freundlich auf mich herab und in seinem Gesicht lag ein Lächeln zwischen den tiefen Wetterfalten. Er fuhr sich durchs Haar, von dem man nie genau sagen konnte, ob es hellblondwar oder zu früh weiß geworden. Dann schüttelte er Joern die Hand und danach half er uns hinauf auf den Kutschbock. Dort lagen zwei alte kratzige Decken, in die wickelten wir uns ein. So saßen wir, einer links und einer rechts von Flint, und Flint wendete die Pferde und lenkte uns zurück zum Norderhof.
    »Warum habt ihr geschrien?«, fragte Flint nach einer Weile. »Das wart doch ihr, oder?«
    »Ja, nein, doch«, sagte ich verlegen. »Also, äh.«
    »Ach, uns war gerade so nach Schreien«, erklärte Joern.
    Flint nickte. »Mir war auch ein bisschen nach Schreien, als Westwind ohne dich aus dem Wald zurückkam, Lasse«, sagte er. »Er hat eine Wunde an der Flanke und zitterte am ganzen Leib, während ich sie reinigte. Was ist geschehen?«
    »Der Kjerk«, wisperte ich. »Es war der Kjerk. Olaf glaubt, es gäbe ihn nicht, aber Olaf hat keine Ahnung von Kjerks. Er hat nur eine Ahnung von Gemüsebeeten und seinen Schnittlauchzüchtungen. Der Kjerk ist da draußen im Wald, genau wie du es uns so oft erzählt hast.«
    »Unsinn«, knurrte Flint. »Olaf hat recht. Es gibt keine Kjerks mehr im Wald. Das habe ich euch genauso oft erzählt.«
    »Aber einer davon ist zurückgekommen«, sagte ich. »Wir haben noch ein totes Lamm gefunden. Wer hat die Lämmer gerissen, wenn nicht der Kjerk?«
    Die Laterne über uns flackerte, aber auf dem Gesicht meines Vaters waren Schatten, die nicht vom Laternengeflacker kamen, tief und dunkel. »Ein Fuchs!«, sagte er, doch man hörte, dass er sich selbst nicht glaubte. »Oder ein streunender Hund. Es gibt keine Kjerks, Lasse. Merk dir das.«
    Oh ja, dachte ich, wenn es nach dir geht, gibt es eine Menge Dinge nicht, was, Flint? Es gibt keine Kjerks und es gibt keine Welt hinter der Mauer, die anders ist als unsere. Es gibt keinen Finsterbach und keine Todesschlucht. Ich biss die Zähne zusammen, damit diese Worte nicht aus mir herausquollen. Warum?, wollte ich rufen. Warum hast du mich angelogen?
    Joern griff in seine Tasche, holte etwas heraus und reichte es Flint. »Die hier«, sagte er, »haben wir im Wald gefunden, bei dem gerissenen Lamm.«
    Flint zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete das, was er in den Fingern hielt. Es waren zwei lange dunkelblaue Federn.
    »Hat ein Kjerk Federn?«, fragte ich.
    Flint schwieg lange. Schließlich fuhr er durch sein helles Haar, als suchte er dort nach einer Antwort. »Ja«, sagte er. »Ja, ein Kjerk hat Federn. Dunkelblaue Federn.«
    Er ließ die Zügel los, denn die Straße war ganz gerade und die Pferde wussten alleine, dass sie zum Norderhof laufen mussten. Dann legte er einen Arm um mich und einen um Joern. Und ich dachte, wie schön es wäre, wenn Joern nicht nur mein Freund wäre, sondern mein Bruder, und wenn wir immer zu dritt so auf dem Kutschbock sitzen könnten.
    »Wenn ich euch sage: Geht nicht mehr allein in den Wald«, flüsterte Flint, »dann wird es nichts ändern, nicht wahr? Ihrwerdet trotzdem gehen. Niemand kann euch davon abhalten, einer Spur aus blauen Federn zu folgen, und niemand kann euch davon abhalten, den Kjerk zu suchen. Aber ich habe Angst. Alle Väter haben Angst, wenn ihre Söhne dem Bösen nachjagen. Der Kjerk ist ein Teil des Bösen, von dem ich nicht wollte, dass du es siehst, Lasse. Vergiss deinen Bogen nie. Vergiss deinen Freund nie. Und vergiss nie all das Schöne: das Feuer im Kamin. Das Schnurren der Katze. Die Musik und das goldene Licht des Norderhofs und das Wispern im Sommergras. Denk daran, wenn du irgendwann zu viel Böses und Hässliches sehen musst.«
    Ich wand mich ein wenig in seinem Arm. »Aber es ist doch alles noch da!«, sagte ich. »Wieso sollte ich es vergessen?« Auf einmal war mir wieder kalt, trotz der Decke, und ich hatte Angst, genau wie mein Vater. Das Böse und Hässliche. Joern kannte es. Er würde mir helfen, wenn es so weit wäre.
    Da rollte die Kutsche auf den großen Hof und die Pferde hielten an. Vor uns erhob sich das Gutshaus, um das sich die kleineren Häuser scharten wie Kinder. Ihre Fensteraugen

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