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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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dazusetzte. Nur einer fehlte.
    »Wo ist Onnar?«, fragte Joern.
    »Im Kühlschrank«, sagte Dario.
    »Wie?«
    »Na, dumme Frage! Wo wird Onnar schon sein? In der Fabrik. Die Herren Chefs haben ihn zu sich gerufen. Als wären sie Schuldirektoren. Sie wollen reden.« Er schnaubte.
    »Sie streiken jetzt, oder?«, fragte Joern.
    Alle senkten die Köpfe über ihren Kaffee. Das hieß Ja.
    »Aber es war doch nur eine Nachtschicht«, sagte Joern. »Und jetzt die Morgenschicht. Das reicht schon, dass siereden wollen? Ich hätte gedacht, die Chefs warten erst mal ab, ob die Arbeiter so lange durchhalten.«
    »Kluges Kerlchen«, sagte Dario.
    »Klüger als dein Bruder«, sagte Dennis.
    »Der glaubt, sie wollen ernsthaft verhandeln«, sagte Dirk.
    »Aber sie wollen ihn bloß einschüchtern, damit er die Leute zurückpfeift«, sagte Damian.
    »Was … genau … wie … was werden sie mit ihm tun?«, fragte Joern.
    »Nichts«, sagte Mama. Sie hob ihre Tasse, um einen Schluck Kaffee zu trinken, doch ihre Hand zitterte und so setzte sie die Tasse wieder ab. Sie hoffte wohl, dass keiner das Zittern bemerkte. Mütter hoffen manchmal komische Dinge. »Gar nichts werden sie mit ihm tun«, sagte Mama. »Hörst du, Joern? Sie werden sich nur höflich mit deinem Bruder unterhalten.« Sie warf einen Blick zur Uhr. »Musst du nicht los, wenn du noch vor der Schule ein Runde mit dem Hund …?« Sie stand auf. »Ich jedenfalls sollte gehen.«
    »Wie?«, fragte Joern. »Du willst arbeiten? Streiken sie in der Fabrik nicht?«
    »Doch«, sagte Mama. »Aber irgendjemand muss doch das Geld verdienen.«
    Sie zog ihre Jacke über, ohne irgendwen anzusehen. Dann schlüpfte sie aus der Haustür.
    Die Tür hatte sich kaum geschlossen, als Damian mit der Faust auf den Tisch hieb, dass die Tassen und Teller nur so klirrten.
    »Diese ganze verdammte Fabrik!«, rief er. »Dieses ganze verdammte Bergwerk! In die Luft jagen möchte man es, nicht einen verdammten, blöden, nutzlosen Streik anzetteln! Den Chefs und Unterchefs und Unterunterchefs unsere Wut mal richtig zeigen – mit diesen!« Und er hielt seine Fäuste vor sich in die Luft, damit alle sie bewundern konnten.
    »Oder mit so etwas hier«, sagte Dirk und holte ein Schnappmesser aus der Hosentasche. »Da steckt auch ’ne Menge Wut drin.«
    Die vier D beugten sich alle darüber und begannen, über den Wert des Messers zu diskutieren.
    »Ich … äh, ich geh dann mal«, sagte Joern. »Äh, zur Schule.«
    Aber die vier D waren mit sich und dem Messer und ihrer Wut beschäftigt.
    Minuten später stieg Joern auf sein altes Fahrrad. Flops Leine hatte er diesmal an den Lenker gebunden. Nicht gerade praktisch, wenn man zu einer Schule fährt, in der Hunde verboten sind. Doch Joern hatte nicht vor, zur Schule zu fahren. Da hatte Dennis ausnahmsweise einmal recht gehabt.
    Durch die Straßen schob sich der Morgenverkehr. Menschen mit gebeugten Köpfen hasteten Morgenbürgersteige entlang. Niemand schien den Morgen zu mögen. Aber in der Schwarzen Stadt, dachte Joern, mochte auch niemand den Nachmittag und niemand den Abend. Die Schwarze Stadt war den ganzen Tag lang schwarz, 365 Tage im Jahr. Nur Flop rannte begeistert vor dem Fahrrad her.
    Um zu den Stollen zu gelangen, musste man bis zum Stadtrand und dahinter den Berg hochfahren. Hier säumten nur noch wenige kohlschwarze Häuser die Straße und schließlich gab es nichts mehr als niedrige, struppige Büsche. Joern schmeckte die Kohle jetzt auf der Zunge. Aber es war, als schmeckte er noch etwas anderes. Etwas Schönes, etwas Wunderbares, etwas Buntes: den Staub des Nachtspats, den sie hier schliffen. Schließlich tauchte hinter einer Wegbiegung die Schleiferei auf und daneben, beinahe unscheinbar, der Eingang in den Berg.
    Joern war schon oft hier gewesen, um seine Mutter oder Onnar nach ihrer Schicht abzuholen. Sonst hatte ihm der Lärm der Maschinen und Motoren von Weitem entgegengedröhnt, vermischt mit den Geräuschen tief aus dem Berg, dem Hämmern und den Sprengungen. Jetzt war es merkwürdig still.
    Als Joern das Fahrrad abstellte, sah Flop zu ihm auf und winselte. Da entdeckte Joern einen dritten Geschmack in der Luft: Er roch die Nervosität. Und er begriff, weshalb es so still war. Onnar hatte gesagt, die Hälfte der Arbeiter würde streiken. Es war nicht die Hälfte. Es waren alle. Die Maschinen der Schleiferei standen still, die Stollen im Berg lagen verlassen. Niemand war dort. Nur Mama saß vielleicht irgendwo einsam in einer der

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