Jenseits der Finsterbach-Brücke
durchließen. Irgendwo schrie eine Eule. Wir gingen schweigend weiter. Flop lief noch immer vor uns her, aber er ließ die schwarzen Schlappohren hängen vor Müdigkeit. Auch ich wurde immer müder und müder.
»Jetzt essen sie wohl zu Abend auf dem Norderhof«, sagte ich. »Und es ist warm und gemütlich in den Häusern. Und sie machen die Lampen an und fragen sich, wo wir sind.«
»Ich kenne auch ein paar Leute, die sich fragen, wo ich bin«, sagte Joern leise.
In dieser Sekunde zogen die Wolken beiseite. Sie gaben den Mond frei. Und da sahen wir die Augen. Sie waren gelb und warfen das Mondlicht zurück wie winzige Spiegel. Ich blieb stehen, packte Joern am Arm und wir starrten ins Dickicht. Da, zwischen den schwarzen Nachtschatten der Blätter, schwebten die Augen in der Luft und starrten zurück.
Es war nicht nur ein Paar. Es waren Dutzende. Augen direkt über dem Boden, Augen auf Kniehöhe, Augen auf Augenhöhe – sie waren überall. Nur die Straße war noch immer leer. Die Augen beobachteten uns aus dem Schutz des Waldes heraus: eine Armee von lautlosen Spionen. Meine Knie wurden weich wie Spiegeleier.
»Es sind nur die Tiere«, flüsterte ich. »Irgendwelche Tiere, die im Wald wohnen.«
»Ja«, flüsterte Joern und hob Flop auf seinen Arm, »es sind nur die Tiere.«
Aber keiner von uns glaubte so recht daran. Denn vielleicht war eines von den Nur-Tieren ja doch der Kjerk. Oder sie waren etwas ganz anderes: Wesen, die ich nicht kannte. Wesen, die sich nicht herausgetraut hatten, wenn ich mit Flint zusammen am Feuer gesessen hatte. Wesen der Nacht.
»Das Böse ist in den Wald gekommen«, wisperte ich.
Es waren Johanns Worte und wie sehr hätte ich mir gewünscht, Johann wäre jetzt bei uns gewesen! Johann mit seinem rauen Lachen und seinem Gewehr. Wie lächerlich kam ich mir vor mit meinem dummen Bogen, mit dem ich niemals auf alle Augenpaare gleichzeitig schießen konnte. Das Gewehr hätte zumindest laut geknallt, das hätte sie vielleicht vertrieben.
»Joern«, flüsterte ich, »wie wäre es, wenn … wenn wir schreien würden? Ob sie das erschreckt?«
Einige der Augenpaare bewegten sich nun. Sie huschten hin und her, manche verschwanden, manche tauchten auf und manche kamen näher.
»Okay«, wisperte Joern heiser. »Schreien wir. Eins, zwei … drei.«
Bei drei kniff ich die Augen zu, steckte mir die Zeigefinger in die Ohren und schrie, so laut ich konnte. Ich schrie irgendetwas wie »Aaaaaaaaah!« oder »Oooooooooh!« und sicher hörte es sich furchtbar bescheuert an, aber es half. Ich schrie meine ganze Angst heraus – die gesammelte Angst eines unendlich langen Tages. Und trotz meiner zugestopften Ohren hörte ich neben mir Joern schreien. Er schrie eher »Eeeeeeeh!« oder »Iiiiiiiiiiih!«, auch nicht viel besser. Flop jaulte von Joerns Arm aus, ungefähr »Uuuuuuuuuh!«, und ich wette, in diesem Augenblick erschreckte sich der ganze Wald vom Tor am Ende der Straße bis zum Norderhof.
Als ich wieder hinguckte, waren die gelben Augen verschwunden. Ich nahm die Finger aus den Ohren. Vor uns näherte sich Hufgetrappel durch die Dunkelheit und wir sahen ein hin- und herschaukelndes Licht.
»Joern!«, sagte ich. »Eine Kutsche! Jemand kommt! Jemand hat uns gehört!«
»Der Kjerk kann nicht in eine Kutsche steigen und so tun, als wäre er ein Mensch, oder?«, fragte Joern. »Ich meine ja nur. Bei Fabelwesen weiß man nie.«
Doch ehe ich mir darüber Sorgen machen konnte, war dasHufgetrappel schon bei uns. Die Kutsche hielt direkt vor uns an. Eine Laterne hing über dem Kutschbock und jetzt sprang eine Gestalt von der Kutsche auf die Straße. Kurz darauf blendete mich das Licht einer Taschenlampe.
»Lasse?«, fragte mein Vater. »Und du bist also Joern? Frentjes … was hat sie gesagt? Neffe oder Großneffe oder Urgroßadoptivcousin?«
»Vor allem«, sagte Joern, »bin ich Lasses Freund. Das reicht doch.«
Und da wurde mir so warm von innen, dass ich glaubte, ich müsste verglühen. »Ja«, sagte ich. »Das reicht.«
Ich liebe meinen Vater sehr, aber so glücklich wie jetzt war ich nie gewesen, seine Stimme zu hören. Mein Vater ließ das Licht der Taschenlampe von unseren Gesichtern zu Boden wandern, damit wir wieder etwas sehen konnten, und so stand er vor uns: groß und stark und sicher. Er trug einen Wollpullover, den Frentje gestrickt hatte, und erst als ich den Pullover sah, merkte ich, wie ich fror. Der Abend war kalt geworden, so kalt wie ein Gefrierfach.
»Lasse«, sagte
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