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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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riesigen Hallen und fror. Warum war sie zur Arbeit gegangen? War es wirklich wegen des Geldes oder steckte etwas anderes dahinter?
    Nur hinter einem einzigen Fenster der Schleiferei brannte Licht – lebloses, künstliches Licht.
    Dort lag Pöhlkes Büro, das wusste Joern. Hinter diesem Fenster war Onnar. Es durchrieselte ihn gleichzeitig heiß und kalt vor Stolz und vor Angst. Onnar, sein Bruder, hatte es geschafft, die Arbeiter alle zu überzeugen, dass sich etwas ändern musste. Aber was geschah hinter dem milchigen Fensterglas? Er rannte an den Lagerschuppen vorbei, die den Parkplatz umstanden wie riesige Wachhunde, und kauerte sich zusammen mit Flop unter das erleuchtete Fenster.
    Drinnen sprach jemand. Mehrere Leute. Joern konnte keine Worte verstehen, doch es war, als flösse eine fürchterliche Kälte aus den Stimmen nach draußen. Flop drängte sich zitternd gegen ihn. Und dann hörte Joern Onnars Stimme, tief und warm wie ein Ofen, und die Kälte wich für Sekunden. Zum ersten Mal verstand er, was gesagt wurde.
    »Ich will mit dem Großen sprechen«, sagte Onnar klar und deutlich. »Holt ihn her. Oder bringt mich zu ihm. Ihr wisst, wer ich bin.«
    Ein eisiges Lachen antwortete ihm.
    »Gerade deshalb solltest du wissen, dass er dich niemals empfangen wird«, sagte eine der kalten Stimmen.
    Danach gab es wieder nur Gemurmel. Joern verstand nicht, was die Worte bedeutet hatten, doch er verstand etwas anderes. »Es ist der Kjerk!«, wisperte er in Flops Ohr. »In dieser Welt hat er keine blauen Federn, sondern kalte Stimmen, und er sieht aus wie die Chefs des Bergwerks. Die Männer des Großen.«
    Und er reißt keine Lämmer, dachte Joern. Er reißt Menschen.
    In diesem Moment verstummten die Stimmen und kurz darauf öffnete sich eine Tür in der Schleiferei. Onnar trat heraus.
    Die, mit denen er gesprochen hatte, blieben hinter ihm zurück, im Schutz des Gebäudes. Joern glaubte, Pöhlke zu erkennen, den Gewerkschaftschef, doch er war sich nicht sicher.
    Die Tür schloss sich hinter Onnar. Er war blass.
    Joern sprang auf und rannte hinüber. Er wollte Onnar umarmen, doch dann fiel ihm ein, dass er zwölf war und beinahe erwachsen, und er blieb stehen. Er folgte Onnars Blick. Überall bei den Lagerschuppen erhoben sich jetzt Männer und Frauen. Dutzende, Hunderte. Sie traten aus den Schatten der hohen Mauern heraus. Es war, als wüchsen sie aus dem Erdboden. Wie hatte Joern all diese Menschen übersehen können?
    Sie warteten darauf, was Onnar sagen würde. Auch Joern wartete.
    Onnar schüttelte sich, als wäre er eben aus einem sehr kalten Bach aufgetaucht. Vielleicht aus dem Finsterbach. Schließlich verzog sich sein Gesicht ganz langsam zu einem Lächeln. Er lächelte eine Weile still in sich hinein und dann sprach er.
    »Sie wollen uns Angst machen«, sagte er. »Aber sie sind es, die sich fürchten. Sie fürchten sich vor uns. Sie haben nicht damit gerechnet, dass so viele von uns streiken werden. Der Einzige, der zum Bergwerk gekommen ist, ist der junge Pöhlke.«
    Ein Raunen lief durch die Menge, verächtlich.
    »Sie fürchten sich vor dem Verlust«, fuhr Onnar fort. »Jede gestreikte Stunde kostet sie eine schöne Stange Geld, sie und den Großen. Mehr, als einer von uns im ganzen Jahr verdient. Noch sind sie nicht bereit zu verhandeln. Sie sind nur bereit zu drohen.«
    »War der Große da?«, schrie einer aus der Menge. »Hast du mit ihm gesprochen?«
    Onnar schüttelte den Kopf. »Sie wollen mich nicht mit ihm sprechen lassen. Er hat keine Zeit, sagen sie, obwohl er in der Nähe sei, näher, als wir dächten. Vermutlich war das nur eine ihrer leeren Drohungen. Aber vielleicht ist er wirklich hier. In der Stadt.«
    »Durch die Stadt!«, rief jemand. »Ziehen wir durch die Stadt! Dann sieht er uns!«
    »Durch die Stadt!«, riefen jetzt viele. »Durch die Stadt!«
    Onnar sagte noch etwas, doch seine Stimme ging in ihren Rufen unter. Und auf einmal waren überall Plakate. Plakate an Stangen, Plakate an Besenstielen, Plakate auf Bettlaken gemalt, Plakate über den Köpfen der Menge: ein Wald aus Plakaten.
    WER KOHLE SCHÜRFT, WILL KOHLE SEHEN! stand darauf. SCHLEIFT NACHTSPAT, KEINE MENSCHEN! und: EDEL SEIN STATT EDELSTEIN!
    Und jetzt begannen die Arbeiter die Sprüche von den Plakaten zu rufen, im Takt und immer wieder, wie Beschwörungsformeln: »Edel sein statt Edelstein!«
    Einen Moment lang wollte Joern darüber lachen. Es wirktezu komisch. Dann fühlte er einen Stich in sich. Sie konnten vielleicht

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