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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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nicht dichten. Aber sie hatten recht.
    Die Menge wandte der Schleiferei und dem Bergwerk den Rücken zu, um in die Stadt hinabzuziehen. Es war, als wälzte sich eine große Raupe mit Tausenden von Füßen die Straße hinunter, zwischen den kargen Büschen hindurch. Als würde ein gewaltiger Fluss aus Worten und Händen sich den Berg hinunter ergießen.
    Der Fluss riss Joern mit sich. Er nahm Flop auf den Arm, damit niemand auf ihn trat, und ließ sich mit ins Tal spülen. Und plötzlich tauchte Onnar neben ihm auf. Er sagte nichts über die Schule, in der Joern schon wieder nicht war. Stattdessen hob er seinen kleinen Bruder auf die Schultern, wie er es früher getan hatte – obwohl Joern jetzt zwölf war. Onnar war stark. Und so ließ sich Joern auf den Schultern seines Bruders ins Tal hinabtragen, mitten im Strom der Arbeiter, im Arm seinen Hund, der im Takt zu den Rufen bellte. Ein prickelndes Gefühl des Glücks machte sich langsam in Joern breit. Die Mächtigen hatten Angst. Der Große würde sie sehen. Er würde nachgeben. Alles würde gut werden.
    Als Joern sich einmal umdrehte, sah er, dass das Milchglasfenster des Büros jetzt offen war. Und dort, am Fenster, stand jemand. Es war Pöhlke und er verfolgte die Demonstration durch ein Monokel aus geschliffenem Stein. Nachtspat. Er sah die Proteste in fröhlichen, bunten Farben. Ein lustiges Spiel von großen Kindern. Pöhlke lächelte. Aber sein Lächeln war eisig.
    Irgendjemand hatte eine Trommel mitgebracht und der Demonstrationszug marschierte in die Schwarze Stadt hinein wie ein merkwürdiges Heer. Neugierige Gesichter erschienen hinter den Fenstern der Häuser, Autos wurden zum Stehenbleiben gezwungen. Wir sind unaufhaltbar, dachte Joern. Wenn nur Lasse da wäre, um zu sehen, wie wir die Schwarze Stadt umkrempeln! Er schloss die Augen und für einen Moment saß er nicht mehr auf Onnars Schultern, sondern auf Westwind, hinter Lasse, und sie führten die Arbeiter gemeinsam an. Gleich hinter ihnen ritt Almut auf Ostwind, ihr Kastanienhaar wehend wie eine Fahne, und sie schrie mit den Demonstranten um die Wette: Edel sein! Statt Edelschwein!
    »Hey, Almut«, sagte Joern in seinem Tagtraum. »Da hast du was falsch verstanden!«
    Auf einmal scheute Westwind, buckelte und drohte Joern und Lasse abzuwerfen. Joern öffnete die Augen.
    »Runter!«, schrie Onnar. »Du musst von meinen Schultern runter!«
    Joern landete auf dem Boden, ohne zu begreifen. Flop krallte sich panisch an seinem Hemd fest. Der Lärm hatte zugenommen, es waren nicht mehr nur die Rufe der Arbeiter. Da war jetzt auch eine Stimme aus einem Megafon.
    »Zurück«, befahl die Stimme. »Dies ist keine angemeldete Demonstration. Wenn Sie die Versammlung auflösen, wird Ihnen nichts geschehen.«
    Doch die Menge dachte nicht daran, sich aufzulösen. Sie marschierte weiter voran.
    »Der Große und seine Leute haben uns die Polizei auf den Hals gehetzt«, sagte Onnar. »Aber wir lassen uns nicht einschüchtern.«
    Joern sah die Uniformen seitlich der Straße.
    »He!«, rief jemand in der Menge. »Los, zeigen wir ihnen, wer wir sind!« Es war Dirk und jetzt entdeckte Joern auch Damian neben ihm. Wie lange liefen sie schon mit der Demonstration?
    »Lasst uns durch!«, rief Damian. »Weg da!«
    Und dann flog ein Stein. Joern wusste nicht, wer ihn geworfen hatte, aber er war sicher, dass es einer der vier D gewesen war. Der Stein traf nicht, doch ein weiterer folgte und dieser erreichte sein Ziel. Einer der Polizisten schrie.
    Onnar schrie auch. »Neeein!«, schrie er.
    Und plötzlich war er nicht mehr neben Joern. Er sah noch, wie Onnar einem Fisch gleich durchs Gewühl tauchte, wie er Damian am Arm packte und ihn zu Boden rang. Kurz darauf verschwanden die beiden aus Joerns Blickfeld.
    Um ihn herum brach das Chaos aus. Polizisten mit Schlagstöcken drängten sich zwischen die Arbeiter, um sie auseinanderzuscheuchen, mehr Steine flogen, Fetzen von Schreien erfüllten die Luft. Die Menge bewegte sich nicht mehr vorwärts, sondern wogte hin und her wie ein Ozean. Menschen stolperten und stürzten links und rechts von ihm zu Boden, andere halfen ihnen auf; manche warfen sich ins Getümmel und manche versuchten zu fliehen. Joern duckte sich und legte seine Arme schützend um Flop.
    Ich muss hier raus!, sagte es in seinem Kopf, sonst passiert Flop etwas. Aber Onnar!, sagte eine andere Stimme. Ich kann doch Onnar nicht alleinlassen! Lächerlich, erwiderte die erste Stimme. Was bist du schon? Zwölf bist du, ein

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