Jenseits der Finsterbach-Brücke
Keinen einzigen Tag länger.
Wenn er nicht nur geträumt hatte, wenn die Brücke noch da war, würde er wieder über den Finsterbach gehen. Er würde durch das Loch in der Mauer schlüpfen und durch den Wald gehen bis zum Norderhof, wo alles gut und schön und hell war, und er würde nie wieder vor dem Kjerk weglaufen. Er würde Lasse helfen, ihn zu besiegen.
Das Abenteuer wartete auf ihn.
In der Nacht, als alle schliefen, packte Joern seine Sachen: vier Paar Socken und fünf Unterhosen, Flops Hundenapf und Flops Leine. Dann schlich er durch den Wald aus trocknender Wäsche und hielt die Luft an, damit Mama nicht aufwachte, die im Wohnzimmer schlief. Auch Onnar schlief sonst im Wohnzimmer. Jetzt war seine Matratze leer. Vermutlich war er bei irgendeiner Besprechung mit den anderen Arbeitern. Joern wollte Mama noch einmal ins Gesicht sehen, ein letztes Mal. Doch er brachte es nicht über sich. Er ließ sie im Stich. Es ging nicht anders.
Er wanderte zu Fuß durch die grell erleuchteten Straßen. Das Fahrrad ließ er zurück. Im Norderwald würde er es nicht brauchen. Noch immer schmerzte jede Stelle an seinem Körper, wenn er sich bewegte, aber er konnte in diesem Moment nicht auf ein paar dumme blaue Flecke achten. Flop folgte ihm, torkelnd wie ein Schlafwandler, und begriff nicht, weshalb sie zu dieser späten Stunde spazieren gingen.
»Wir gehen nicht spazieren«, sagte Joern leise zu ihm. »Wir gehen fort. Für immer.«
Er sah sich nicht nach dem Wohnblock um, der zwölf Jahre lang sein Zuhause gewesen war.
In seiner Tasche schlief der Ring mit dem Nachtspat.
Wer nicht bleiben kann, muss gehen
W er ist da?«, fragte Frentje und strich sich die offenen Haare aus den Augen. Ihr freundliches, breites Gesicht war verquollen vom Schlaf wie Hefeteig.
»Hallo, Tante Frentje«, sagte Joern und grinste. »Erkennst du deinen Großneffen nicht mehr?«
Flop sprang an ihr hoch, aber er verstand wohl, dass er nicht kläffen durfte, damit niemand aufwachte.
»Doch, äh, natürlich«, sagte Frentje und kraulte Flop zwischen den schwarzen Schlappohren. »Aber was tut mein Großneffe hier um diese Zeit, wo jeder vernünftige Großneffe im Bett liegt und schläft?«
»Er legt sich irgendwohin und schläft«, antwortete Joern. »Wenn es ihm gestattet wird. Zwei Stühle in der Küche reichen aus.«
»Tz, tz, zwei Stühle in der Küche!«, schimpfte Frentje leise und zog Joern ins Haus. »Das stell ich mir ja bequem vor! Wie wär’s stattdessen mit dem Gästebett? Du hast gestern sowieso den ganzen Tag darin verbracht, denn du warst plötzlich erkrankt. Haben wir jedenfalls Tom erzählt und Olaf und Flint und den anderen, die nichts wissen. Ich fandja, wir könnten genauso gut sagen, du wärst schon wieder abgereist. Aber davon wollte Lasse nichts hören. Mein Freund Joern, hat er gesagt, kommt wieder. Aber dass du mitten in der Nacht wiederkommst, kann ja kein Mensch ahnen!« Sie schüttelte den Kopf. »Hast Glück, dass Tom oder Olaf dein Klopfen nicht gehört haben. Die denken, du liegst brav im Bett und kurierst deine mysteriöse Krankheit aus.«
»Es tut mir leid«, flüsterte Joern. »Ich wollte nicht, dass alle wach werden und … Frentje, ich konnte wirklich nicht bleiben!«
»Sch, sch«, machte Frentje und plötzlich fand Joern sich in ihren Armen wieder, die weich waren und warm. »Kein Grund für Entschuldigungen! Wer nicht bleiben kann, muss gehen.« Dann ging sie voran, eine schmale Stiege hinauf, und führte Joern oben in einen Raum mit einem großen Bett voller Kissen und Decken.
»Dich Bohnenstange werde ich darin morgen früh wohl nur schwer wiederfinden«, sagte sie und lachte. »Hier, nimm den Schlafanzug! Den hab ich mal zu heiß gewaschen, seitdem ist er Olaf zu klein. Ich wollte Olaf hinterher auch heiß waschen, damit er ihm wieder passt, aber irgendwie hatte Olaf was dagegen.«
Flop kugelte sich am Fußende des Bettes zusammen und Joern streifte seine Kleider einfach dort ab, wo er gerade stand. Er war zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen, dass Frentje ihm zusah. Als er das Hemd auszog, bemerkte er ihren seltsamen Blick.
»Was haben sie mit dir gemacht?«, fragte sie leise.
Joern sah an sich hinab. Sie meinte die blauen Flecke. Sie dachte, jemand hätte ihn geschlagen.
»Nichts!«, beeilte er sich zu sagen. »Nicht, was du denkst! Ich war bei einer Demonstration in der Schwarzen Stadt dabei. Ich bin gefallen und unter die Füße der Leute geraten. Sie haben mich gar nicht
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