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Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Nagula
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schonend darauf hingewiesen, daß sich Tom offenbar in eine fixe Idee verrannt hatte, in eine Manie, die ihn als skurrilsympathischen Sonderling erscheinen ließ, den man seinen Spinnereien nachgehen lassen konnte, vorausgesetzt, daß er der Umgebung nicht lästig fiel. Doch das war nun der Fall – langsam aber stetig wurde er zu einem Störfaktor in der Lebensgemeinschaft der Siedlung, immer mehr fiel er den anderen mit ins Gigantische gesteigerten Ansprüchen zur Last, störte den Empfang ihrer Telesysteme und stahl ihnen die Rechenzeit. Längst mußte sie sich dazu zwingen, unter die Leute zu gehen, und wenn sie sich auf der Straße sehen ließ, so folgten ihr gehässige Blicke – gerade, daß man ihr noch keine Steine nachwarf. Und nun war sie soweit, daß sie es nicht mehr ertragen konnte.
    Sie hatte längere Zeit hinter Tom gestanden, ohne daß dieser sie gehört oder beachtet hätte. Nun berührte sie ihn zaghaft an der Schulter. Er drehte sich um. »Ich werde gehen«, sagte sie. Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber plötzlich war ihre Stimme abgeschnitten.
    Tom blickte sie lange an. »Auch du willst mich also verlassen«, sagte er. »Nun ja, ich kann dich verstehen. Mach dir keine Sorgen – ich komme allein zurecht.«
    »Ich habe meine Koffer gepackt«, sagte die junge Frau. »Ich will dich nicht weiter stören.« Sie tat einige Schritte zur Tür, wandte sich dann noch einmal um: »Warum tust du das? Ist dir das wirklich so viel wert? Ich habe dich schon einige Male danach gefragt, aber du hast mir nie geantwortet.«
    Tom kniff die Augen zusammen – bisher war es selten vorgekommen, daß ihn etwas während der »Störungen« ernsthaft zum Nachdenken gebracht hatte. »Warum? Warum?« Er hob hilflos die Schultern. »Du hast mich gefragt – ich hätte dir gern geantwortet. Aber ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht bin ich der letzte Wissenschaftler, vielleicht der letzte Künstler. Ich weiß nicht einmal, wonach ich suche. Ich muß es einfach tun. Kannst du mich verstehen?«
    Seine Tochter blickte ihn an, und nun war ein Anflug von Enttäuschung, ja Ärger in ihren Augen. »Dann gehe ich nun – leb wohl!« Sie verließ den Raum, die Tür fiel hinter ihr zu. Der alte Mann blickte ihr eine Weile nach, ohne etwas zu sehen, und wandte sich dann wieder seinen Anlagen zu.
     
    Nun verließ er seinen Arbeitsraum Tag und Nacht nicht mehr – irgend etwas trieb ihn zur Eile an. Vielleicht die Furcht, man könnte ihm gegen alle Gesetze den Zugriff zum System verwehren? Sein Essen beschränkte sich auf Nahrungsmittelkonzentrate, die ihm von einem Kaufhaus zugestellt wurden. Er trank Wasser aus der Leitung und schlief auf einer Couch, die er ächzend und stöhnend von unzähligen Aktenordnern und Kassetten befreit hatte.
    Sein Blick hing auf dem Bildschirm, seine Finger spielten an der Tastatur – blind, wie ein Pianist, der sich der Musik so sehr verschreibt, daß sie ihn voll und ganz erfüllt, ja, daß er selbst zur Musik wird – die Berührungspunkte mit der Realität nur noch unentbehrliche Notwendigkeit.
    Auf dem Bildschirm bauten sich mit kaum merklichen ruckweisen Bewegungen Schriftzüge auf, links anstehend, von oben nach unten, wurden wieder gelöscht, begannen wieder oben, am Bildrand. Kreisfunktionale Prozesse, wiederholte Iteration, GO TO-Befehle, Aufbau komplexer Ordnungen, bedingte Anweisungen, partielle Verwürfelung, mehrfache Verzweigung …
    Nun erschien ein Bild auf dem Schirm, farbig, vielfache Überlagerungen, Verbindungslinien, Pfeile, Andeutungen vielschichtiger Beziehungen … Und dann wurden die Figuren bewegt, es war, als hätten sie Leben gewonnen. Sie wurden komplizierter, die Farben wechselten, immer neue Verbindungen traten hervor und wieder zurück … Längst war die lokale Speicherkapazität erschöpft, schon wurde jene der umliegenden Zentren in Anspruch genommen, doch noch immer wuchs der Bedarf an Speicherraum … Andere Programme wurden stillgelegt, Rechenprozesse unterbrochen – die Erscheinung, die Tom ins Leben gerufen hatte, verbreitete sich wie eine Welle vom Mittelpunkt her in die Umgebung, durch das Netzwerk der elektronischen Kommunikation, das zu einer zweiten Welt neben der althergebrachten richt- und greifbaren geworden war, und wenn sie an Hindernisse stieß, wurde sie nicht aufgehalten, sondern brach sich, wurde gebeugt, trat darum herum und wanderte weiter, immer weiter …
    Noch immer saß Tom vor dem Bildschirm und folgte mit leuchtenden

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