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Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Nagula
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– Sie haben sich da selbst hineinmanövriert. Aber so sagen Sie doch«, er trat einen Schritt an Tom heran, der sich nicht rührte, »warum tun Sie denn das eigentlich? Was bezwecken Sie damit? Geht es Ihnen nur darum, uns Ärger zu machen?«
    »Aber nein«, sagte Tom. »Ich will niemandem Ärger machen. Es geht um etwas ganz anderes. Merken Sie denn nicht, daß sich in unserer Welt nichts mehr verändert? Niemand hat noch Phantasie, niemand hat noch Ideen. Und jene Berufe, die sich früher als ›schöpferisch‹ bezeichneten … Die Wissenschaftler verwenden Problemlösungsroutinen, die Musiker Kompositionsautomaten, die Dichter erzeugen Assoziationen mit Zufallsgeneratoren, und die Maler lassen sich endlose Reihen stets wechselnder Bilder auf Bildschirmen ausgeben – nach Programmen, die der Computer je nach Intelligenzquotient und Stimmung variiert. Merkt denn niemand, daß dabei immer nur dasselbe herauskommt? Man müßte alle diese Leute einmal dazu zwingen, wieder selbst zu denken. Einmal müßte man ihnen ihr Spielzeug entziehen, die adaptiven Systeme, die lediglich Dummheit und Ideenlosigkeit verstärken.«
    »Aber Sie arbeiten doch selbst ununterbrochen mit dem Computer«, sagte der Beamte erstaunt.
    Drei Minuten lang hatte Tom vergessen, mit wem er sich unterhielt, und seinem Eifer freien Lauf gelassen. Nun besann er sich wieder. »Haben Sie es denn noch immer nicht begriffen? Man kann Computer auch kreativ einsetzen. Und das Tragische daran: Dazu ist niemand mehr bereit.« Er trat zur Tür – eine stumme Aufforderung für den anderen, den Besuch nun endlich abzuschließen.
    Der Beamte ging zur Tür, kopfschüttelnd, und bevor er hinausging, sagte er – und es hörte sich unsicher an: »Aber Ihre Programme haben doch keinen Sinn! Wir haben sie tagelang analysiert.«
    »Alles hat Sinn«, sagte Tom mit Nachdruck. »Es gibt nichts Sinnloses – alles hat Sinn, wenn wir ihn vielleicht auch noch nicht gefunden haben.« Und er schob den Beamten endgültig zur Tür hinaus.
     
    Tom saß vor seiner Anlage, als wäre nichts gewesen. Er war sofort wieder voll konzentriert, arbeitete mit jener stillen Verbissenheit, die ihn seit Jahren im Bann gehalten hatte und eher stärker geworden war. Alles, was aus der Umgebung zu ihm herandrang, empfand er als Störung, als etwas Dumpfes, Unangebrachtes, gegen das man sich zur Wehr setzen mußte. Nur gelegentlich dämmerte in ihm ein Bedauern darüber, daß er damit vielleicht auf manches verzichtete, was in ganz anderer Weise wertvoll war – die Beschäftigung mit den schönen Dingen der Umwelt, die Verbundenheit mit anderen Menschen.
    Nahezu unhörbar war die junge Frau hereingetreten, seine Tochter, die ihm den Haushalt führte. Sie war schmal und mädchenhaft, sah jünger aus, als sie war – sie war die einzige der Familie, die es bei Tom ausgehalten hatte, alle anderen hatten ihn längst verlassen – ihre Geschwister, ihre Mutter und sogar die alte Haushälterin. Warum war sie geblieben? Sie empfand große Sympathie für den schlampigen alten Mann, der sich so wenig um sie kümmerte. Das war aber sicher nicht der einzige Grund, denn auch die anderen hatten ihn gemocht – und sich schließlich doch von ihm abgekehrt. Da war also sicher noch ein wenig mehr, und sie meinte sogar zu wissen, was es war. Sie glaubte ihn zu verstehen. Natürlich hatte sie keine Ahnung von Informatik und Automatentheorie, von Rechenprozessen und formaler Logik. Was sie zu verstehen glaubte, war die Hingabe an etwas, was man sich vorgenommen hatte, den Willen, alles für die Lösung einer Aufgabe aufzuwenden, selbst wenn sie einen voll und bedingungslos in Anspruch nahm. Insgeheim bewunderte sie Tom. Wenn sie auch nicht verstand, was er tat – für sie war er ein großer Mann, ein Weiser. Und wenn sie sich auch kaum mit ihm unterhalten konnte – weil es ihr unmöglich war, seinen Gedankengängen zu folgen –, so glaubte sie doch, daß sie einen kleinen Anteil am großen Werk haben würde, an dem er arbeitete.
    Das war jahrelang so gewesen – bis ihr schließlich doch die Zweifel gekommen waren. Sie hatte mit dem Datenschutzbeamten gesprochen – heimlich – und hatte erfahren, daß alles das, was Tom da programmierte, ohne Sinn und Verstand war, wirres Zeug, nicht wert, einen Gedanken darauf zu verschwenden. Und sie hatte einen Arzt aufgesucht, einen Psychiater, und ihm ihre Sorgen und Zweifel dargelegt. Er hatte sie gebeten, in einer Woche wiederzukommen, und dann hatte er sie

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