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Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Nagula
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Himmel, keine Wolken, nur klares, helles, warmes, lichtes Blau, Himmelblau.
    Dann sieht Niemann die Erde: nackte, unbewachsene Erde; an manchen Stellen ein leichter, grünlicher Schimmer, kümmerliches Unkraut. Steine und Felsbrocken. Risse im zementharten Boden. Wüste. Niemann hustete. Dann setzte er den Wagen wieder in Bewegung, steuerte ihn vorsichtig über die verfallene Straße. Im Rückspiegel sah er, wie hinter ihnen die riesigen Kunststoffkuppeln, unter denen die Stadt lag, langsam kleiner wurden und schließlich nur noch als flache Erhebungen am Horizont standen.
    Seltack saß stumm neben ihm und studierte eine Karte. Manchmal ließ er Niemann halten, und sie versuchten gemeinsam, ein verwittertes Straßenschild zu entziffern. Sie sprachen nur das Nötigste miteinander. Sie hatten sich nichts zu sagen und sparten überflüssige Worte. Sprechen reizte die Stimmbänder. Sie fuhren durch verlassene Ortschaften, mußten immer wieder Umwege fahren, wenn eine Brücke eingestürzt war oder die Trümmer eines Gebäudes den Weg versperrten. Manchmal war die Straße unterspült, manchmal zogen breite Sprünge durch den brüchigen Asphalt. Keine Pflanzen, keine Tiere, keine Menschen.
    Schließlich fanden sie die Schutthalde, einen langgestreckten Hügel, an dessen einem Abhang ein Bagger die oberste Erdschicht weggeschaufelt hatte. Also war der N.O.A.H. ein anderes Unternehmen zuvorgekommen. Seit die natürlichen Metallvorkommen erschöpft waren oder nicht mehr ausgebeutet werden konnten, wurden die Schutthalden des 20. Jahrhunderts nach Metallschrott durchwühlt. So wurde die Wirtschaft von kleinen Freibeuterfirmen, meistens nicht mehr als fünf oder sechs Männern, notdürftig in Gang gehalten.
    »Gehen Sie hinüber zu den Leuten«, sagte Seltack, »und erklären Sie ihnen, daß die N.O.A.H. hier anfangen wird.«
    Niemann nahm die Schutzmaske vom Rücksitz, zog sich die Handschuhe an und zwängte sich mühsam aus dem engen Wagen. Dann lief er über die nackte Erde auf den Bagger zu.
    Er hatte noch immer nicht begriffen, was Seltack wollte. Die Papiere der N.O.A.H. den Freibeutern an der Halde vorzeigen – das konnte Seltack allein oder jeder andere Mitarbeiter. Von Papieren und Stempeln ließen sich die da drüben sowieso nicht vertreiben. Die N.O.A.H. mußte Leute zum Abbau hierherschicken und ihre Schutzmannschaft.
    Der Boden unter Niemanns Füßen war ausgetrocknet, rissig. Aber Niemann setzte seine groben Stiefel fast andächtig darauf: Erde, nicht der schmierige Kunststoffboden unter den Kuppeln. Er fühlte fast so etwas wie Zärtlichkeit für diese von den Menschen vergiftete Erde. Er erinnerte sich an den Geruch trockener, heißer, lebendiger Erde und schob gedankenlos seine Maske nach oben. Aber nach wenigen Atemzügen packte ihn ein Hustenkrampf, und er hatte alle Mühe, die Maske wieder über das Gesicht zu ziehen und gleichzeitig den Qualm einer Ampulle einzuatmen.
    Die Leute am Bagger nahmen sofort eine drohende Haltung ein, als sie ihn sahen. Er blieb in etwa dreißig Meter Entfernung stehen und rief, die N.O.A.H. hätte die Schürfrechte an dieser Halde erworben. Die Arbeiter, die schon kleine Haufen Metallschrott aus der Halde herausgewühlt hatten, antworteten mit wüsten Beschimpfungen. Niemann wußte, daß Diskutieren zwecklos war. Er ging zum Wagen zurück. Ein Stein, der ihm nachgeworfen wurde, verfehlte ihn nur um wenige Zentimeter. Scheußliches Leben, scheußliche Welt.
    Auf der Rückfahrt begann Seltack zu sprechen. Er, Seltack, müsse nächstens wieder einmal, für einen Monat oder zwei, in eine Klinik, die Lunge, alles mal wieder gründlich säubern, eine Routinesache; er habe gedacht, ob Niemann ihn nicht vertreten wolle, halboffiziell gewissermaßen, er wolle nicht, daß alle Welt von diesem Klinikaufenthalt erfahre, und überhaupt hätten die Leute andere Sorgen als seine, Seltacks, Gesundheit. Ob Niemann einverstanden sei?
    Das lange Sprechen hatte Seltack angestrengt. Er griff zur Sauerstoffdusche und zog gierig die Luft in die Lungen. Dann reichte er Niemann den Apparat.
    »Danke«, sagte Niemann.
    »Und das Angebot?« fragte Seltack.
    »Ich nehme es an«, erwiderte Niemann, »ich vermute, das ist das einfachste.«
    Dann fuhren sie schweigend weiter. Das Fahrzeug quälte sich langsam über die verfallene Straße, und Niemann hatte alle Mühe, die schlimmsten Stellen zu vermeiden.
    In der Ferne tauchten die Kuppeln der Stadt auf, kleine Blasen am Horizont, die langsam größer wurden,

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