Jenseits der Finsternis
eigene Schwerkraft erzeugte.
Aus der Fahrstuhltür trat Niemann ins Freie: oben, erstaunlich weit oben, der künstliche Himmel, klares, freundliches Blau, das geheimnisvoll zu leuchten schien: himmelblau. Niemann stand in einem Park: fettes, saftiges Grün, Rosen, Büsche, in denen Vögel zwitscherten, sanft geschwungene Wege und Menschen, die umher schlenderten oder auf den Bänken saßen und miteinander plauderten. Ein Paar, das sich engumschlungen in den Armen hielt und die Welt vergessen hatte.
Niemann fühlte sich wie ein Eindringling. Er schämte sich seines geschmacklosen Anzugs, seiner roten, aufgequollenen Haut und des Zuckens, das immer wieder über sein Gesicht lief. Er ging weiter, versuchte so zu wirken, als ginge er hier jeden Tag spazieren.
Dann sah er Seltack. Der Tote überquerte die Straße, die am Park entlang führte. Seltack ist tot! Einen Augenblick lang verschlug es Niemann die Sprache, dann rief er: »Seltack, Seltack!« Seltack schaute sich um, erkannte Niemann und war blitzschnell in einem engen Seitenweg verschwunden. Niemann lief hinter ihm her, rief, fragte Passanten, mußte schließlich die Suche erfolglos aufgeben.
Verwirrt und niedergeschlagen ging er in sein Hotel, verzehrte die ungewohnte Mahlzeit ohne Appetit, lag träge in seinem Zimmer und wurde später im Schlaf von den üblichen Alpträumen heimgesucht. Seltack spielte darin eine Rolle, doch Niemann konnte sich beim Aufwachen nicht mehr an Einzelheiten erinnern.
Gegen zehn Uhr ließ er sich bei der Leitung melden. Man führte mit ihm höflich distanzierte Gespräche, versuchte irgend etwas von ihm zu erfahren. Aber Niemann wurde aus den Andeutungen nicht klug. Er fühlte schnell, daß es nicht um die Nachfolge Seltacks ging – doch worum sonst? Und außerdem lebte Seltack. Niemann wußte, daß er sich am Vortag nicht getäuscht hatte.
Nachmittags suchte er weiter. Die phantastische Architektur der Raumstadt und ihre heiteren, entspannten Bewohner nahm er nur nebenbei zur Kenntnis. Kurz vor dem Abflug seiner Rakete stand er noch einmal in dem kleinen Park und schaute zu dem geheimnisvoll glänzenden Blau des Himmels empor. Eine Vorstellung verfolgte ihn: Zwei, drei Meter hinter diesem Blau gibt es nichts mehr als das endlose Schwarz des Weltalls. Stumm saß er dann in der Rakete und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Nach 800 000 Kilometern Flug wartete auf ihn eine schmierige Wohnkabine, die er mit einer wechselnden Zahl wechselnder Gesichter teilte.
In den nächsten Wochen war Niemann noch verschlossener als sonst. Er tat seine Arbeit, nüchtern, aber ohne Überzeugung. Noch immer verfolgte ihn der Gedanke an Seltack. Er hatte auf der Erde ein paar Ermittlungen angestellt, aber Seltacks Spuren verloren sich. Dann erinnerte sich Niemann an die Kodekarten, die ihm Seltack zurücklassen wollte. Er fand sie im Schreibtisch. Noch am gleichen Abend ging er in Seltacks ehemalige Wohnung. Ein Dutzend Leute hockte in dem Raum und atmete irgendwelche synthetischen Drogen. Seltacks privates Verschlußfach war noch unversehrt, und Niemann konnte es mit der Kodekarte öffnen.
Kümmerlicher Inhalt, den Niemann desinteressiert liegen ließ. Nur einige beschriebene Hefte nahm er mit. In seiner Schlafkoje machte er sich an die Lektüre: Seltack hatte eine Art Tagebuch geführt. Mit einiger Mühe gelang es Niemann, die zittrige Handschrift Seltacks auf dem Kunstpapier zu entziffern:
14. 6. 2047. Natürlich war die Eröffnung, die mir die N.O.A.H. gemacht hat, ein Schock. Ich habe mich entschlossen, die vernünftige und nicht die sentimentale Lösung zu wählen. Die Daten, die mir gezeigt wurden, sind erschütternd. Es kann höchstens noch ein paar Jahre dauern.
20. 6. 2047. Wir von der N.O.A.H. haben das Recht auf ein paar tausend Plätze. Ich stelle mir vor, wir würden noch wie im letzten Jahrhundert in einem engen Netz persönlicher Beziehungen leben. Dann wäre das Auswahlproblem praktisch nicht zu lösen, weil jeder seine Kinder und Kindeskinder mitnehmen wollte.
In dieser Hinsicht gibt es jetzt keine Schwierigkeiten.
24. 6. 2047. Glücklicherweise sind die Raketenindustrien überall stillgelegt. Dennoch müssen wir natürlich dafür sorgen, daß nach dem Tag X die Raumstadt von der Erde aus nicht mehr erreicht werden kann. Das könnte für die Menschheit, ich meine für den überlebenden Teil, katastrophale Folgen haben.
Dreiviertel der künftigen N.O.A.H.-Bewohner sind über vierzig Jahre. Bei den Jüngeren
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