Jenseits der Finsternis
stand ihm die Wahrheit vor Augen. Die Wahrheit in Form eines Eliteordens, der für Ruhe und Ordnung in der Stadt sorgte. Wie reife Früchte, die aus dem Nichts fielen, kamen ihm Worte in den Sinn: Verameisung, Gleichschaltung. Und das Überlebensmotto: totaler Einsatz bis zur Selbstaufgabe. Langsam wich er zurück.
Es war ihre Mentalität, die zählte.
H ERMANN E BELING N.O.A.H. – himmelblau und schwarz
Die Zentrale hatte Niemann eine Sondergenehmigung für den Elektrowagen ausgestellt. Mißmutig war er durch das Menschengedränge auf den Straßen zu der Halle gegangen, in der die Fahrzeuge standen. Natürlich war keiner der Wagen fahrbereit. Niemann hatte sich auf eine Kiste gehockt und zugeschaut, wie die Arbeiter versuchten, einen Wagen in Gang zu bringen. Die. Halle roch säuerlich, ein ungesunder, beißender Geruch. Niemann mußte husten. Es schüttelte ihn, und seine Bronchien beruhigten sich erst wieder, als er eine Ampulle zwischen den Fingern zerdrückt und den weißlichen Qualm eingeatmet hatte. Dann hatten die Arbeiter ihre Reparatur beendet, und er hatte Seltack angerufen, sie könnten jetzt fahren. Seltack solle am besten erst bei der Schleuse zusteigen.
Der Elektrowagen hatte sich mühsam in Bewegung gesetzt. Wie lange war es eigentlich her, daß keine neuen Wagen mehr produziert wurden? Zehn Jahre? Zwanzig Jahre? Niemann konnte sich nicht erinnern. Er hatte den Wagen auf die Straße gesteuert und sich dann mit dem verbeulten, ölverschmierten Fahrzeug einen Weg bis zu der Schleuse gebahnt. Er hatte alle Scheiben hochgedreht und versucht, nicht auf das Schimpfen und Fluchen der Leute zu achten. Aber die geballten Fäuste und die wutverzerrten Gesichter waren nicht zu übersehen. Ein paar Halbwüchsige hatten wütend auf die Scheiben des Wagens gespuckt, als Niemann versuchte, sie mit der Stoßstange ganz sanft zur Seite zu schieben. Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er die Gittertore zur Schleuse hinter sich geschlossen hatte.
Natürlich war Seltack noch nicht da. Niemann fuhr den Wagen zur Seite und wartete. Er nahm die Sauerstoffdusche und versuchte, sich etwas Luft zu schaffen. Aber der Behälter war fast leer, und Niemann schob ihn enttäuscht in die Tasche zurück. Sein Atem ging röchelnd und schwer, aber das hatte nichts zu bedeuten, mit dem Atem hatten auch die anderen Schwierigkeiten. Die künstliche Atmosphäre tat niemandem gut.
Niemann war Ende vierzig, Anfang fünfzig vielleicht; doch er sah älter aus, war frühzeitig gealtert. Kahl, hager, entzündete Augen, die Haut aus rötlichem Pergament. Gedankenlos rieb er sich immer wieder eine Salbe auf die juckenden und beißenden Stellen, aber das half nichts, genausowenig wie das Kratzen mit den Fingernägeln.
Scheußliches Leben, scheußliche Welt. Wenn nur dieser widerliche Seltack bald käme, damit sie losfahren könnten. Was sollte das überhaupt: ihn, Niemann, zu einer neuentdeckten Schutthalde mitzunehmen? Er verstand doch nichts von Prospektion und Metallgewinnung. Er war zuständig für Transportfragen bei der N.O.A.H. Limited. Doch Niemann blieb mit seinen Gedanken nicht lange bei dieser Frage. Die N.O.A.H. und das Projekt der Raumstadt N.O.A.H. waren ihm gleichgültig. Er wartete sowieso nur noch auf das Ende, zu feige, wie er sich eingestand, selbst Schluß zu machen.
Niemann gehörte zu der Generation, die noch das Leben vor der Katastrophe kennengelernt hatte, vor dem Zusammenbruch der Biosphäre. Er schloß die Augen und versuchte, die Gegenwart zu vergessen, aber auch die deutlichsten Bilder der Vergangenheit blieben schwächer als das Kratzen der Haut, das Tränen der Augen und der widerliche Geschmack im Mund. Niemann fühlte, wie Wut in ihm hochstieg. Sollte er aussteigen und Streit mit den Arbeitern der Schleuse suchen? Sollte er Seltack und die N.O.A.H. anrufen? Er resignierte. Er schluckte eine Tablette, wartete, ließ die Zeit vergehen.
Dann kam Seltack. Einer der Schleusenbeamten, die untätig im Hof standen, kontrollierte die Papiere und den Wagen und forderte sie auf, sich genau an die Vorschriften zu halten. Sie fuhren in die Schleusenanlage. Hinter ihnen schlossen sich die inneren Tore, vor ihnen rollte krächzend das äußere Metalltor beiseite: Licht! Grelles Sonnenlicht, das die Augen verbrennt. Kein Himmel, keine Erde, nur Licht, das von überall herkommt. Niemann ist geblendet, hält ruckartig den Wagen an, gewöhnt sich langsam an das Licht. Ein Sommertag. Die Sonne schon hoch am
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