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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Er war ihr dicht auf den Fersen. Zweige zerbrachen knackend unter seinen Bergschuhen oder bogen sich raschelnd beiseite, als er sich einen Weg durch das Gestrüpp bahnte.
    Er fluchte unterdrückt.
    Er war wie von Sinnen vor Wut.
    Sie roch das Waffenöl, das Leder seiner Schuhe, den gewohnten Muff seiner Jacke und die Ausdünstungen seines Körpers, das stärkste Aphrodisiakum, das sie kannte. Sie hörte seine Stimme, seinen Atem. Seine Präsenz war überwältigend – jedes Mal hatte sie darauf reagiert wie ein Zwingerhund, der frisches Futter in seinem Napf witterte. Hungrig, erwartungsvoll, heftig und ungeduldig.
    Sie presste sich noch flacher auf den kalten Boden und schloss die Augen. Atmete so viel wie möglich durch die Nase. Sie hoffte inständig, dass er sie nicht sah, dass ihre Atemwolken sich mit dem leichten Nebel vermischten und das Herbstlaub in der Senke ihre Kleidung ausreichend verbarg. Damit er vorbeilief, weiter in den Wald hinein.
    Erst wenn er außer Hörweite war, konnte sie den Versuch wagen, aufzustehen und in Richtung Straße zu rennen. Vielleicht hatte sie Glück und konnte ein Auto anhalten. Sonst würde sie weiterlaufen müssen bis zum nächsten Haus, um von dort aus die Polizei zu verständigen.
    Bis dahin aber schwebte sie in höchster Gefahr.
    Ihre Arme und Beine waren von Schürfwunden bedeckt, und ihre Lippe war aufgeplatzt. Blut klebte an ihrem Kinn, aber es kümmerte sie nicht. Sie spürte die Schmerzen nicht einmal.
    Was sie jedoch fühlte war das Leben, tief in ihr. Es war noch klein, nicht größer als eine Faust, aber es war da. Neues Leben.
    Arme, Beine. Ein kleines Gesicht.
    Beängstigend nahe knackten die Zweige jetzt. Noch tiefer drückte sie sich in die Mulde, die Wange an die nassen Blätter gepresst.
    »Verdammtes Weib, Scheißdreck!«
    Seine Stimme. Ein wenig keuchend, aber nicht atemlos. Eher ungeduldig, als müsse er dringend etwas erledigen, als sei er in Eile.
    Er besaß eine erstaunliche Kondition. Sie kannte niemanden, der so stark und durchtrainiert war wie er. Sie würde ihm niemals entkommen können. Körperlich war er ihr in jeder Hinsicht überlegen, das wusste er genau. Und er wusste noch viel mehr.
    Er wusste, dass sie sein Kind trug. Sie hatte es ihm erzählt, als sie sich in der Scheune geliebt hatten. Hastig. Seine Hose bis zu den Knien heruntergezogen. Er hatte sie an den Haaren gepackt, war noch tiefer in sie eingedrungen und hatte geflüstert, er sei stolz auf sie. Es würde bestimmt ein schönes Baby werden. Alles würde gut werden. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Er würde sich um alles kümmern. Er hätte alles unter Kontrolle.
    Sie war vor Liebe blind gewesen und konnte nicht mehr klar denken. Sie hatte ihm vertraut. Was geschehen war und was er in ihr ausgelöst hatte war so überwältigend, so spannend gewesen – er war so spannend gewesen.
    Er blieb stehen, nur einen Schritt von ihrem Gesicht entfernt. Sie sah die Bergschuhe und den Saum seiner Jeans, nass vom Unterholz und dem langen Gras.
    »Verdammt noch mal!«, brüllte er und stieß mit dem Fuß die Blätter von ihr weg. »Gott verdammt noch mal!«
    Sie rollte sich enger zusammen, machte sich so klein wie möglich und zog die Knie eng an, um ihren Bauch zu schützen.
    »Bitte nicht!«, rief sie und streckte die Hände abwehrend in die Luft. »Bitte, ich werde kein …«
    »Halt’s Maul!« Er hob die Jagdbüchse, stemmte den Kolben gegen die Schulter, legte die Wange an und nahm sie über den langen, glänzenden Lauf hinweg ins Visier. Der Blick konzentriert, die Gesichtszüge verhärtet. Augen, in denen keine Liebe mehr erkennbar war, kein Verlangen, keine Wärme.
    Nur Zorn und wilde Entschlossenheit, diese Exekution durchzuführen.

1
    »Es tut mir wirklich leid für dich.« Sjef hat die Ellenbogen auf seinen Schreibtisch gestützt und die Fingerkuppen aneinandergelegt.
    Ich blicke an ihm vorbei durch die schmutzigen Scheiben der Aluminiumfenster. Das Laub der Baumreihe neben dem Parkplatz hat sich rot und gelb verfärbt. Blätter bedecken das Pflaster.
    »Ich kann mir vorstellen, dass dich das sehr hart trifft, glaub mir. Uns fällt es auch nicht leicht«, höre ich ihn fortfahren, in einem Ton, als hätte er eine Idiotin vor sich. »Wir hatten hohe Erwartungen an die Wochenendbeilage. Deswegen haben wir dich damals eingestellt. Aber wie du weißt, haben sich viele Anzeigenkunden zurückgezogen.«
    Unter dem Vordach draußen stehen Kollegen und rauchen, die Reißverschlüsse

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