Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
der Gemeinde. Es war wichtig, wenigstens so auszusehen. Es war wichtig, weil sie heute ihrem Sohn die Wahrheit sagen würde.
Ihre Knie zitterten, als sie die Stufen erklomm zu der geteilten Wohnung unter dem Dach. Als Jurist in Wien hätte er bequemer leben können. Doch Bequemlichkeit war im Moment nicht seine erste Priorität. Er erwartete andere Dinge vom Leben, und sie war an alldem schuld.
Ihre Hand zitterte, als sie sich um das Treppengeländer krampfte.
Wie redete man über solche Dinge mit einem erwachsenen Sohn? Sie hatte ihm nie den kleinsten Anlass gegeben zu denken, er sei nicht Richter Treynsterns Sohn. Sie hatte ihm ohnehin nicht viel erklärt, was die Dinge des Fleisches anging, obgleich sie immer gefühlt hatte, dass es im Grunde ihre Aufgabe gewesen wäre. Oder auch nicht. Es war die Aufgabe eines Vaters. Doch ein Vater war nicht greifbar gewesen. Knaben hatten allerdings die Fähigkeit, all diese Dinge von wieder anderen Knaben erklärt zu bekommen, und da sie nicht wiederum ihren Müttern Rede und Antwort stehen wollten, auf welche Weise sie sich diese Kenntnisse aneigneten, gab es keinen gemeinsamen Anhaltspunkt, keinen guten Anfang für eine Erklärung, sondern nur gegenseitige Peinlichkeit. Er wollte ihre Erklärung nicht. Also hatte sie nichts erklärt. Es war auch nicht notwendig gewesen.
Thorolf hatte schon sehr früh gewusst, wofür Mädchen gut waren. Was Sophie ihm hatte sagen müssen, galt nur den Beschränkungen und den Gefahren, denen Männer sich aussetzten, die sich fleischlichen Gelüsten hingaben – ganz besonders, wenn diese käuflich zu erwerben waren. Er hatte ihr nicht zuhören wollen, hielt sie wohl für eine verknöcherte, alte Frau oder glaubte immerhin, dass sie die Bedürfnisse eines Mannes nicht zu begreifen imstande war. Leidenschaft war etwas, das er mit dem Bild seiner Mutter nicht verband.
Die Lehrer an seiner Klosterschule taten schon genug, um ihre Schützlinge vor jeglichem Interesse an Dingen des Fleisches zu schützen. Doch auch sie blieben dabei gänzlich erfolglos. Er hatte nicht auf seine Mutter gehört. Er hörte nicht auf seine Lehrer.
Eine geschlagene Minute stand sie vor der Holztür und rang nach Atem. Normalerweise wurde sie beim Treppensteigen nicht kurzatmig. Doch ihre Nervosität kostete sie Kraft. Sie klopfte.
Erst dachte sie, er wäre ausgegangen. Lange passierte gar nichts. Sie klopfte noch einmal.
„Ich komme doch schon!“, konnte man eine ungeduldige und etwas entnervte Stimme von der anderen Seite der Tür her hören. Hatte sie ihn bei etwas gestört? Schon wieder? Sie hatten sich doch für diesen Tag verabredet. Er sollte sie erwarten.
Sein Kastanienhaar war verwuschelt, und sein Gesichtsausdruck wandelte sich von entnervt zu unnahbar, als er die Tür öffnete und sie davor erblickte. Sein Hemd war nicht ganz zugeknöpft. Seine grauen Augen glitzerten im spärlichen Licht des Treppenhauses. Der fein gezeichnete Mund war zu einer strengen Linie verkniffen.
„Grüß Gott, Thorolf. Ich hoffe doch, ich störe nicht? Wir hatten uns für heute verabredet.“
Er trat nicht beiseite, um sie einzulassen.
„Ja“, sagte er. „Hatten wir. Aber dein Liebhaber hat mich inzwischen aufgesucht. Dein Besuch ist also gänzlich überflüssig geworden, Mutter. An weiteren Details bin ich nicht interessiert.“
Sie errötete wie ein Backfisch. Der Schock über seine harsche Stimme durchschnitt sie und ließ sie für einen Moment ganz hilflos dastehen. Es war also geschehen. Arpad hatte das getan, worum sie ihn gebeten hatte, und nun hasste ihr Sohn sie. Das schmerzte. Lieber Gott, tat das weh. Ihr Magen gefror zu einem Eisklumpen. Sie hatte ihn verloren.
Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie geschwankt hatte, ob seiner eisigen Zurechtweisung. Einen Augenblick später stützte er sie; seine Kraft erinnerte sie an seinen Vater. Einen kurzen Moment lang schmolz sein Blick in Besorgnis.
„Es tut mir leid“, stotterte sie und lehnte sich heftig auf seinen Arm. „Es tut mir leid. Aber wir müssen reden, und nicht im Treppenhaus. Bitte! Bitte, Thorolf!“
Sie sollte nicht betteln. Er war ihr Sohn, ihr Kind. Also sollte sie nicht zu betteln haben. Sie brachte sich in eine schlechte Ausgangsposition. Mit Gleichmut sollte sie die Situation beherrschen. Sie hatte sich niemals für das geschämt, was sie getan hatte. Für Liebe musste man sich nicht schämen, und es gab keinen Grund, jetzt damit anzufangen.
Er führte sie ohne ein weiteres Wort in die
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