Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
wieder auf, das er vorm Mittagessen gelesen hatte, und ließ sich in einer Ecke der Bibliothek nieder. Für einen quadratischen Raum verfügte die Bibliothek über erstaunlich viele versteckte Winkel und Nischen, in die man sich ungestört mit einem Buch zurückziehen konnte.
Er wollte nicht gesehen werden. Er wollte noch nicht einmal hier sein, nicht gerade jetzt. Es war nicht so, dass ihn etwa Zweifel ob seiner Berufswahl plagten; es war die richtige Wahl gewesen, zumal er eine andere auch gar nicht gehabt hatte. Doch er wünschte sich, sein Onkel wäre hier. Irgendjemand, der ihn verstand.
Vielleicht sogar Graf Arpad. Es hatte so viel Kraft und Gewissheit in dessen Berührung gelegen. Ian hatte sich in die Hände des dunklen Mannes begeben, und die waren zärtlich und verständnisvoll gewesen. Der Biss selbst hatte kaum geschmerzt. Gerade nur so viel, dass man dankbar war für das Vergehen dieses kleinen Schmerzes in einer Flut von Leidenschaft und Hingabe. Seine Zweifel, sein Argwohn, seine Unruhe und selbst sein anerzogener Sinn für Sittsamkeit waren in einer Woge wilder Emotionen auf und davon gespült worden. Für kurze Zeit war der Sí ein Anker gewesen, ein Heim, jemand, an dem man sich im Sturm festhalten konnte. Er allein kannte den Teil von Ians Seele, der eine andere Wirklichkeit erfahren hatte und der ihn so qualvoll weit von jedem anderen Menschen entfernte. Ein bisschen Blut schien eine geringe Gegenleistung dafür zu sein, dass man sich für einen kurze Zeit nah und geborgen fühlen konnte.
Seltsamerweise konnte sich Ian an die Einzelheiten des Abends nicht sehr genau erinnern. Dafür war er dankbar, denn er war sich nicht sicher, ob es ihm sonst heute gelungen wäre, seine Fassung zu behalten. Vielleicht hätte er nur über die Unsittlichkeit der Begegnung gegrübelt und sich Sorgen gemacht. Doch sein Gedächtnis war wie übermalt, schön und glatt gezogen, und alles, woran er sich erinnern konnte, war die intensive Freude und der Wunsch zu geben.
Zweimal hatte der Dunkle ihn gebissen und sein Blut getrunken, einmal in den Hals, einmal an einer ... anderen Stelle. Ian erinnerte sich nur an das Gefühl vollkommener aufopfernder Hingabe. Dennoch war es kein Opfer im Sinne von Selbstaufgabe, obgleich es das sehr wohl hätte sein können. Vielmehr schien es sein freier Wunsch zu sein zu geben, zu teilen, sein Blut darzubringen. Ian hatte den leidenschaftlichen Hunger des Anderen gespürt und sich darüber gefreut. Ein Zauberbann war es, nichts als Gleisnerei; der Mann wusste seine Opfer so zu manipulieren, dass sie das, was er ihnen antat, mochten, dass sie ihr Vertrauen, ihr ganzes Leben in die Hände von jemandem legten, der – objektiv gesehen – ein lebensgefährliches Ungeheuer war. Nichts anderes stand zwischen Leben und Tod als die hauchdünne Selbstkontrolle des Feyons.
Dennoch hatte Ian es nicht nur ertragen, sondern genossen. Ein Grund dafür mochte das Gefühl sein, zu jemandem zu gehören. Er wusste, dass dies ein trügerischer Eindruck war. Der Feyon gehörte niemandem, und Ian mochte ein Freund sein, vielleicht aber auch nur Abendbrot und Zeitvertreib. Der dunkle Graf dinierte und liebte regelmäßig. Es mochte ihm kaum etwas bedeuten.
Er musste diese Gedanken dringend wieder in jene Ecken zurückverbannen, in denen sie gewesen waren. Zum einen war da die Verpflichtung, ein moralisch einwandfreies Leben zu führen. Zum anderen würde man selbst in einer Gemeinschaft von vergleichsweise weltoffenen Menschen die allzu leidenschaftliche Freundschaft zwischen zwei Männern kaum gutheißen, und sich einem blutsaugenden Feyon zum Abendessen darzubieten brachte einem mit Sicherheit auch keine Pluspunkte ein. Doch er brauchte ein Zuhause, und die Loge war eins. Was er war und was er getan hatte – und vielleicht gebeten würde, wieder zu tun – mochte ihn dieses Zuhauses berauben.
Vielleicht jedoch auch nicht. Es gab mindestens zwei Adepten, von denen Ian annahm, dass sie Männer Frauen vorzogen. Sicher war er sich nicht. Sexualität wurde in der Loge nicht besprochen – außer vielleicht als ein wenig wünschenswertes Konzentrationshindernis. Nirgends wurde darüber gesprochen, höchstens in jenen allzu freien Herrenclubs, in denen Ian nie gewesen war und in denen Gentlemen ihre silbergefassten Daguerreotypien von nackten Frauen verglichen und über deren freizügige Stellungen grinsten. Bevor sein Leben sich geändert hatte, war er zu jung gewesen, um solchen Freuden zu frönen, und
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