Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
finde ich weniger lustig. Was ist so komisch an einer Geschichte, deren Pointe es ist, dass man seinen Vater nicht kennt?
Ich hatte ihn immer vermisst. Im Kindergartenalter redete ich mit ihm wie mit Gott und erzählte ihm von all den Problemen, die es mit sich brachte, eine alte Mutter zu haben, die fast meine Großmutter hätte sein können. Mama war älter als alle anderen Mütter und zusätzlich noch altmodisch von ihrem Gehabe her. Auf den Schulfesten glühten meine Wangen, wenn sie in ihrem selbst genähten Kleid und Schneestiefeln erschien und die feinen Schuhe in einem gehäkelten Einkaufsbeutel mit Blumenmuster bei sich trug. Keine der anderen Mütter war so, die paar anderen älteren Mütter, die es bei uns in der Schule gab, waren wenigstens modisch gekleidet. Nur Omas waren wie Mama. Als sie ihre isländischen Pfannkuchen neben die Backfladen legte, wie sie die Pizzas meiner Schulkameraden nannte, verkrümelte ich mich auf die Toilette.
Und nun ist sie zweiundsiebzig Jahre alt und immer noch Mutter und keine Großmutter. Beschweren tut sie sich deswegen eigentlich nicht. Sie mischt sich auf subtilere Weise ein, versichert den Leuten, dass jeder die Dinge so sehen könne, wie er wolle, obwohl sie natürlich eine andere Meinung habe, eine ganz gegenteilige sogar.
Die ersten Lichtschleier durchziehen die Dunkelheit. Ich erinnere mich, dass der Wetterbericht für die nächsten Tage Sonne vorhergesagt hat, unterstehe mich aber, das zu erwähnen, damit Mama nicht wieder mit ihren Schwarzmalereien über den Klimawandel anfängt. Sie setzt sich auf den Küchenhocker, legt ihre trockenen Hände in den Schoß und sieht aufrecht durch die Spitzengardinen vor ihrem Küchenfenster in die Welt, während ich ein feuchtes Handtuch von ihrem Kopf wickele.
Ich habe mir gestern einen Weihnachtsstern gekauft, sagt sie, und zwar einen mit weißen Blättern, der gefällt mir sehr.
Nanna Ebenesardóttir war in ihrer Jugend keine Schönheitskönigin, aber jetzt ist sie eine hübsche alte Frau: in einem türkisfarbenen Kleid, mit diesem schlohweißen Haar und rotem Lippenstift. Ihre, ähnlich wie meine, hervorstehenden Eckzähne verleihen dem Gesicht etwas Schelmisches. Sie ist etwas aus dem Leim gegangen, nachdem sie mit dem Rauchen aufgehört hatte, aber die zusätzlichen Pfunde stehen ihr gut. Ihre Finger sind weiterhin gelb vom Tabak, weshalb sie morgens und abends Margarine auf ihre Arbeiterhände aufträgt.
Du hast so einen Weihnachtsstern bestimmt schon mal gesehen, vermutet sie nach einem Moment des Schweigens.
Ja, stimme ich zu, befeuchte den Kamm, hebe eine ihrer Locken damit an und drehe sie auf einen Wickler. Ich kenne diese weißen Weihnachtssterne, das ist mal was anderes.
Ich höre sie lächeln, ansonsten sitzt sie still und sieht konzentriert in den Hinterhof. Denkst du auch daran, die Schneeammern zu füttern?, fragt sie schließlich.
Selten, sage ich.
Ich versuche jeden Tag, daran zu denken, sagt sie. Man kann ihnen getoastetes Brot zerbröseln, das brauche ich ja eh als Panade für meinen Bratfisch.
Ja, klar, gähne ich, und die Schläfrigkeit in meiner Stimme bewegt sie dazu, das Thema zu wechseln. Nein! Wahrscheinlich war es die ganze Zeit ihr Plan gewesen, mich mit unerheblichen Kleinigkeiten müde zu machen, um mir dann gefahrlos eine Breitseite verpassen zu können: Heute Morgen wurde deine Freundin im Radio als vermisst gemeldet, sagt sie.
Hast du das gehört?
Ja, und du offensichtlich auch, sagt sie durchtrieben. Die arme Frau ist verschwunden. Was mag denn da passiert sein?
Ich habe keine Ahnung. Sie ist eigentlich gar nicht mehr meine Freundin. Um ehrlich zu sein, habe ich sie seit damals vor zehn Jahren in Barcelona nicht mehr gesehen.
Und auch nichts von ihr gehört?
Nein.
So eine treulose Tomate bist du also, sagt sie dann. Atmet tief ein, und ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass sie die Lippen zusammenkneift. Irgendwas führt sie im Schilde. Es würde ihr guttun, sich weniger Gedanken zu machen, also frage ich, ob sie sich an den Computerkurs für Senioren erinnert, der vor einigen Tagen angekündigt worden ist.
Das ist nichts für mich, sagt sie.
Ich dachte, du wolltest lernen, wie man mit dem Internet umgeht. Wo du dich doch so für Politik interessierst. Im Internet findet man alles, Mama.
Aber sie sagt, sie erfahre mehr als genug im Radio und Fernsehen. Sie sei es leid, wie diese Politiker versuchten, sich eine Mehrheit zusammenzufaseln. Die sollten sich mal lieber
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