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Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt

Titel: Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audur Jónsdóttir
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Vorderseite der Schatulle zu öffnen.
    Sie klemmt, verklebter Staub hat sich in den Fugen festgesetzt. Ich rüttele an ihr, zuerst ohne Erfolg, doch beim dritten Versuch schießt die Schublade rumpelnd aus dem Gehäuse, so dass ich sie plötzlich in der Hand halte und auf die Halskette starre, die in ihr liegt wie eine zusammengerollte Schlange.
    Ich musste sie finden.
    Sie scheint alle Farben des Meeres und des Himmels in sich zu tragen. Je nachdem, wie man sie dreht, schimmern die Steine in immer neuen grünen, grauen und blauen Tönen, mit jedem Lichtstrahl wird eine neue Farbe geboren.
    Arndís hatte zwei solcher Ketten gekauft, eine für mich und eine für sich. Das war an unserem letzten gemeinsamen Tag in Barcelona, als das Thermometer auf über vierzig Grad stieg und es in der Uni einfach nicht auszuhalten war. Im Raval-Viertel war es besonders stickig. Uringestank stieg von den Bürgersteigen auf, und siedend heiße Hundescheiße schmolz sich einen Weg durch die Sandalensohlen. Die Huren grinsten spöttisch, als wir uns schweißnass durch ihre Straße schleppten. Manche waren so dunkel wie Tang, andere so weiß wie Heilbutte, manche androgyn, doch die meisten ziemlich eindeutig weiblich. Sie waren dick, dünn, groß und klein; manche schwanger, andere noch halbe Kinder, manche beides. Manche waren zweiundzwanzig so wie wir, andere älter als unsere Großmütter. Es umgab sie ein Geruch von billigem Parfüm, Blut und Pisse. Einige waren zu dick oder dünn für Miniröcke und Leoparden-Tops. Manche wiegten sich auf Pfennigabsätzen, andere überragten auf Plateausohlen die Menge; diejenigen, die außerdem noch einen Schwanz in ihrem G-String verbargen, wirkten wie auf Stelzen, und zwischen alldem watschelte ein Zwerg herum und hielt seine hormonvergrößerte Brust so hoch, wie er nur konnte. Sie waren bezaubernd. Die Huren von El Raval. Fanden jedenfalls die Männer, die dort herumschlichen, mit Stielaugen und offenen Mündern. Wer kein Geld hatte, musste sich an den Huren sattsehen, die wiederum nach den Reichen Ausschau hielten. Auch uns hatten sie in ihren Bann geschlagen, bis wir uns eine Ecke weiter vor ein Café setzten und eine Sektflasche in einem Eiswürfeleimer bestellten. Prost!, sagten wir wie aus einem Mund, tranken den sonnenglitzernden Sekt und lachten. Dann zog sie plötzlich ein silberfarbenes Päckchen aus ihrer Tasche und gab es mir. Das Lachen verstummte, als ich es verwundert ansah. Dann öffnete ich es und erblickte die Kette.
    Ich habe zwei Ketten für uns gekauft, sagte sie und lachte wieder. Sie zauberte eine zweite, identische hervor, die sie um ihren Hals legte. Wortlos legte ich auch meine um.
    So wie jetzt.
    *
    Es ist kaum Zeit, noch einmal ins Internet zu gehen. Mama macht sich bestimmt schon Sorgen, dass ich sie vergessen habe. Ich zwänge mich in meine Jacke, stürze in den kalten Nordwind hinaus und laufe einem verschwindenden Bus hinterher. Dann taste ich nach dem Handy in meiner Jackentasche und bestelle keuchend ein Taxi.
    Zehn Minuten später hält vor der Bushaltestelle ein schwarzer Mercedes, der im Schein der Straßenlaternen glänzt wie ein Blauwal im Mondlicht.
    Du fährst ja hier in einer Luxuskarre vor, sagt Mama von ganz oben im Treppenhaus, während ich zu ihr hochstapfe. Ich habe mich nicht geirrt, sie muss bereits eine Weile oben am Fenster gewartet haben. Aus der Wohnung kommt Musik: La Traviata ist in dem DVD-Spieler, den ich ihr letzte Weihnachten geschenkt habe. Kaum etwas bringt ihr mehr Spaß, als mit einer Oper im Ohr aus dem Wohnzimmerfenster zu schauen. Stundenlang kann sie dabei zusehen, wie Jugendliche sich auf der Straße herumtreiben, Leute zwischen den Geschäften hin und her hetzen und Frauen mit Kinderwagen den Laugavegur heruntersegeln, während sich Opernstars in bunten Kostümen in ihrem Fernseher die Hand aufs Herz legen.
    Ich habe den Bus verpasst, pruste ich.
    Na, nun bist du ja da. Mama betrachtet mich von oben bis unten, bevor sie aus der Tür tritt und mich hereinlässt. Du bist ja nur noch Haut und Knochen, mein Spatz. Hast du überhaupt gefrühstückt?
    Einen ganzen Elefanten. Ich bücke mich, um meine Schuhe aufzumachen, und spüre ihre Augen auf meinem Scheitel, während ich frage, ob sie sich schon die Haare gewaschen hat.
    Schon längst, sagt Mama. Die sind schon fast wieder trocken. Ich denke, wir sollten den Kamm nass machen.
    Sag nicht immer wir , wenn du mich meinst, bitte ich sie.
    Wie du willst, mein Kleines. Sie schlappt in

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