Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren; man müsse sich um die Kinder kümmern, ihre Eltern und natürlich auch um Leute in ihrem Alter, mal abgesehen von all den Kranken, die auf ein Bett im Krankenhaus warteten. Sie verstehe einfach nicht, wieso in einem fort die Frage diskutiert werde, ob sieben Prozent eine Mehrheit ergäben. Das sei reine Zeitverschwendung. Die Frage beantworte sich doch von allein, so viel wisse selbst sie, eine ungebildete Frau, wobei sie für ihren Teil sich viel mehr Sorgen über den Schafsverbiss mache, diese verflixten Viecher fressen alles kahl, und niemand unternimmt etwas dagegen.
Dann dreht sie den Spieß um: Du redest dauernd davon, dass ich einen Kurs belegen sollte, dabei solltest du dich selbst für einen anmelden.
Ich?
Ja, sagt Mama und schlägt einen Kurs für kreatives Schreiben vor, weil ich einmal Schriftstellerin werden wollte, etwas, das zu einer verträumten Frau zu passen schien. Hast du das ganz aufgegeben?
Hastig tue ich das als Kindertraum ab, lasse mich aber darauf ein, mehr über Weiterbildungskurse allgemein zu schwatzen, denn alles ist besser, als über Arndís zu reden. Ich muss ihr Verschwinden erst einmal allein verarbeiten, Mama hat nun wirklich genug anderes, mit dem sie sich beschäftigen könnte.
Sie hat ihre Dichter aus dem letzten Jahrhundert, die in zerlesenen, schimmelig riechenden Büchern wohnen, die sie nie müde wird durchzublättern. Am zerlesensten ist ein Lehrbuch über Esperanto, das sie seit einigen Jahren mit ihren Gewerkschaftsfreunden lernt. In diesem Buch kann sie von morgens bis abends herumschmökern. Manchmal trifft sie sich auch mit alten Bekannten in ihrem Stammcafé, wo sie sich in dieser Plansprache üben und bei Portwein über Politik reden. Soweit ich weiß, heißt sie da die ›rote Nanna‹. All das hält sie auf Trab – wie gern hätte ich das gewusst, als wir noch Tag für Tag aufeinander aufpassten.
Als sie noch für uns beide gesorgt hatte und ich nach Kräften versuchte, ihr nicht zur Last zu fallen, wo sie doch schon alles für uns tat: Sie verarbeitete Fisch, putzte die Häuser anderer Leute, hütete die Kinder anderer Leute. Sobald die Schule aus war, wich ich ihr nicht von der Seite. Ich schlich ihr lautlos hinterher und sah ihr dabei zu, wie sie Feudel in siedend heißem Seifenwasser auswrang. Ich kann nicht sagen, was schwerer wog, das Mitleid mit Mama oder die Scham über ihr Alter. Im Geiste war ich immerzu bei ihr. Ich begehrte nicht auf, gehorchte immer, war ein artiges Kind.
Nun bin ich zu artig, findet sie und wünscht sich, dass ihre Tochter gegen die Ungerechtigkeit der Welt protestiert wie sie, die alte Gewerkschaftlerin. Einmal fragte Mama, ungewöhnlich tiefschürfend, ob sie daran schuld sei, dass ich nie nein sage.
Nein, sagte ich.
Jetzt müssen die Lockenwickler runter.
*
Im Verlag empfängt mich der wohlbekannte Geruch von Kaffee und Papier. Aus den umliegenden Büros höre ich Stimmen, Tastaturen klappern, und in der Cafeteria klickert die Schachuhr, während eine Mozart-Serenade aus dem halb kaputten Radio plärrt.
Dort steht die Zeit still. Mein Leben der letzten Jahre.
Unsere Buchhalterin Stefanía beugt sich über ihre Schachfiguren. Der dunkle Kopf wiegt hin und her, während sie vor sich hin grübelt, sie ist immer perfekt frisiert. Sobald es die Finanzen erlauben, sollte ich bei ihrem Friseur einen Termin für Mama machen.
Stefanía rückt ihre goldumrandete Brille auf der Nase zurecht und berührt mit ihren weinroten Fingernägeln den weißen König, den der alte Kjartan mit seiner schwarzen Dame bedroht, während er mich selbstzufrieden anstrahlt. Die alte Schachtel kann kein Schach spielen, kichert er heiser, zieht einen Kamm aus der Gesäßtasche seines blauen Overalls und streicht über sein Haar, das glatt ist wie Baumwollstoff.
Und ob ich das kann, erwidert Stefanía, um dann schnell Selbstmord zu begehen. Noch bevor Kjartan die Gelegenheit bekommt, sie matt zu setzen, erhebt sie sich vom Tisch und sieht ihm stolz in die Augen, zieht ihr Wollkostüm gerade , richtet den Kragen der hellrosafarbenen Bluse und weist dann mit der Hand in Richtung Kochnische: Es sind noch Kopenhagener im Schrank, Sunna. Heute Morgen war ja Valgardur Jónsson hier, direkt aus New York City, um mit den Brüdern die Werbemaßnahmen für seinen neuen Bestseller zu besprechen.
Ja, das wird ein echter Weihnachtsknüller, murmelt Kjartan und springt auf; der Bewegungsdrang ist normal für
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