Jenseits des Meeres
hilflos und wusste weder, wer sie war, noch wo ihre Heimstatt sich befand. Sie könnte durch diese Wälder irren, ihren Leuten ganz nahe sein und trotzdem den Rückweg nicht finden.
Megan, der auffiel, dass er die Kiefer zusammenpresste, ahnte, dass er sich Sorgen machte. Allerdings waren ihre eigenen Ängste zu groß, als dass sie sich um die Angelegenheiten dieses Fremden kümmern konnte. Sie schaute zu den Türmen einer Burg hinüber, die sich aus den Nebeln auf der anderen Seite des Flusses erhob. Wenn sie doch nur irgendetwas Bekanntes sähe, irgendetwas, das ihr die Erinnerung zurückbrachte ...
Sie ahnte ja nicht, dass sie gerade die Türme der Burg betrachtete, die ihrer Familie seit mehr als hundert Jahren gehörte. Und hinter diesen Mauern stellte jetzt Jamie MacDonald eine Armee zusammen, die von Englands Grenze bis zu den Wäldern des schottischen Hochlands alles durchkämmen und nicht eher ruhen würde, bis Megan MacAlpin wieder sicher in ihrer Obhut wäre.
„Wir dürfen keine Zeit verlieren.“ Kieran sprach so leise, dass die Schlafende davon nicht aufwachte.
„Auf eine Nacht mehr kommt es doch bei unserer Reise nicht an, Kieran. Doch das könnte gerade die Zeit sein, die die Lady braucht, um sich wieder zu erinnern.“
„Und wenn die Erinnerung nicht wiederkommt?“
Diesen unangenehmen Gedanken wies Colin von sich. „Du hast selbst gesagt, sie sei übel verletzt worden. Lass ihr noch etwas Zeit, um sich zu erholen.“
Kierans Stimme wurde rauer. „Ich würde ihr ja gern Zeit geben, doch leider haben wir keine. Wenn wir hier nicht bald verschwinden, werden wir uns etwas weit Schlimmerem gegenübersehen als der Gesellschaft einer jungen Schottin ohne Gedächtnis.“
Colin schauderte und wandte sich ab. „Du hast natürlich wie immer Recht. Wir werden also diesen Platz hier morgen verlassen. Allerdings denke ich, dass die Schottin uns nicht begleiten sollte.“ „Würdest du sie lieber hier sich selbst überlassen?“
Colin zuckte die Schultern. „Könnten wir sie denn nicht irgendeinem ihrer Landsleute übergeben mit der Bitte, sich um sie zu kümmern?“
„Gewiss.“ Kieran dachte an das Gespräch zwischen Megan und dem jungen Mann, das die beiden führten und das er belauscht hatte. Sie waren bereit gewesen, gegen die MacDougals zu kämpfen, falls sie ihnen begegnet wären. „Und wenn wir sie nun zufällig ihren Feinden ausliefern? Sollen wir dann sagen, uns sei nichts anderes übrig geblieben?“
Colin seufzte. „Falls sie unseretwegen zu Schaden kommt, klebt ihr Blut an unseren Händen.“
Kieran erhob sich. „Das wäre nicht das einzige Blut an meinen Händen“, erwiderte er grimmig.
Colin beobachtete, wie er einen Stein aufhob und daran seine Messerklinge zu schärfen begann. Die innere Stärke seines Bruders bewunderte er. Kieran hatte schon immer für sie alle die Entscheidungen getroffen, und er irrte sich selten. Doch wenn es tatsächlich einmal so war, dann nahm er die Folgen stets ganz allein auf sich.
Wenn man für so viele Menschen die Verantwortung trägt, muss man sich sehr einsam fühlen, dachte Colin. Dennoch hatte sich Kieran nie beklagt. Jedenfalls hatte er sich noch nie etwas anmerken lassen.
Kieran briet das ganze Geflügel an Spießen, teilte etwas davon für das Morgenmahl ein und verpackte den Rest sorgfältig, damit sie auf der langen Reise etwas zu essen hatten.
Megan schaute zu, wie Kieran ihre Pferde sattelte. Zwar hatten die beiden Brüder von einer langen Reise gesprochen, ihr indes nicht gesagt, wohin diese gehen sollte.
„Liegt Eure Heimstatt weit von hier entfernt?“ Es fiel ihr leicht, sich mit Colin zu unterhalten - weshalb dann nicht auch mit seinem Bruder?
„Ja. Es wird eine recht unangenehme Reise.“ Colin wollte sich ein zerfetztes Hemd über den Kopf ziehen. Megan bemerkte, wie er zusammenzuckte, als der raue Stoff seinen geschundenen Rücken streifte.
Sofort ließ sie ihr Stück Fleisch ins Gras fallen. „Lasst mich Euren Rücken sehen.“
„Nein.“ Er wich zurück, war jedoch nicht schnell genug.
Megan hob den Stoff an. Ihr stockte der Atem. „Gott im Himmel! Diese Wunden eitern ja. Die darf man nicht so einfach ignorieren.“ „Wir haben keine Zeit. Ich darf keine weiteren Verzögerungen verursachen.“
„Wenn Ihr Euch nicht die Zeit nehmt, diese Verletzungen ausheilen zu lassen, könnt Ihr bald überhaupt nicht mehr auf einem Pferd sitzen. Legt Euch jetzt bitte auf den Bauch.“
Megan ging zum Flussufer und
Weitere Kostenlose Bücher