Jenseits des Meeres
müde.“
„Du musst aber etwas essen, um bei Kräften zu bleiben! “
Als Colin nur den Kopf schüttelte, nahm Megan Kieran das Fleisch aus der Hand und steckte es einfach seinem Bruder in den Mund. Ohne zu protestieren, kaute der junge Mann. Noch einige Male wiederholte Megan diese Prozedur, bis Colin abwehrend die Hand hob.
„Jetzt nicht mehr.“
„Dreht Euch auf den Bauch“, befahl Megan, „und hebt Euer Hemd hoch. Eure Wunden müssen wieder versorgt werden.“
Kieran lächelte, als sein Bruder gehorchte. Möglicherweise erweist sich Megan auf der Reise noch als recht nützlich, dachte er und beschäftigte sich damit, Feuer zu machen. Dieser Befehlston der jungen Schottin duldete schließlich auch keinen Widerspruch.
Nachdem Colin eingeschlafen war, reichte Kieran Megan ebenfalls etwas zu essen und lehnte sich dann gegen einen Baumstamm. Megan schaute ihm zu und biss dabei in das kalte Fleisch. Während des ganzen Tages hatten sie nur gesprochen, wenn es unbedingt nötig gewesen war. „Wohin führt uns diese Reise?“ wollte sie jetzt wissen.
„Zu meinem Landsitz, und der liegt auf der anderen Seite des Nordkanals.“
Das sagte ihr nichts. „Ist das sehr weit?“
„Ja.“
„Und was ist mit meinem Land? Mit meinen Leuten?“
Diese Frage hatte Kieran erwartet. „Ich bedaure, dass auch Ihr diesen Ort hier verlassen müsst. Obwohl ich weiß, dass Euer Gedächtnis jeden Moment zurückkehren kann, dürfen mein Bruder und ich nicht so lange warten.“
„Werdet Ihr verfolgt?“ Sie blickte ihm direkt in die Augen. „Seid Ihr entflohene Sträflinge?“
Also hatte sie doch mehr mitbekommen, als er dachte. „Ja“, antwortete er ohne Umschweife. „Wir flohen aus dem Fleet-Gefängnis in London.“
„Hattet Ihr sehr üble Verbrechen begangen?“
„Ich würde meinen, das hängt davon ab, wessen Version Ihr hört, Mylady. Die Engländer behaupten, wir seien Feinde der Krone. Ich dagegen würde Euch sagen, dass wir für die Freiheit unseres Volkes kämpfen. Und Ihr ...?“ Er füllte den Schöpfbecher und trank. „Wie Ihr uns nennen würdet, weiß ich nicht.“
„Brachtet Ihr jemanden um?“
„Jawohl.“
„Mord ist wirklich eine schlimme Sache.“ Einen Moment lang wurde sie von Panik gepackt. War sie womöglich des gleichen Verbrechens schuldig?
„So ist es“, bestätigte Kieran, und sie sah die leidenschaftliche Glut in seinen Augen. Und sie erkannte die Wahrheit. Der Mann leugnete und beschönigte nichts.
Er füllte den Schöpfbecher mit frischem Wasser und reichte ihn ihr. „Ich muss nach den Pferden schauen.“ Rasch schritt er davon.
Megan hob sich den Becher an die Lippen und trank in durstigen Zügen. Danach warf sie einen Blick auf den schlafenden Colin und wandte sich zu dem kleinen Fluss. Während sich Kieran mit den Pferden beschäftigte, wollte sie noch weitere Kräuter und Wurzeln für Heilsalben sammeln. Minutenlang suchte sie am Flussufer danach, und als sie einen Vorrat für mehrere Tage zusammenhatte, legte sie alles auf einen großen Stein.
Das Wasser wirkte äußerst verlockend. Mit einem raschen Blick vergewisserte sie sich, dass sie wirklich allein war, zog sich dann ihr schmutziges Gewand aus und wusch es im Fluss. Zum Trocknen hängte sie es über einen Ast. Sie streifte ihre Ziegenlederschuhe ab. Nun noch mit ihrem Hemd bekleidet, machte sie vorsichtig einen Schritt ins Wasser, das sich wunderbar kühl anfühlte.
Ach, wie gut es doch tat, sich das getrocknete Blut von den Wunden zu waschen! Sie befeuchtete sich das Haar und rieb sich die Strähnen so lange, bis auch hier alle Blutspuren verschwunden waren. Nachdem sie danach einmal untergetaucht war, kam sie wieder an die Oberfläche und fühlte sich herrlich sauber.
Behutsam tastete sie nach der Beule an ihrem Hinterkopf.
Zwar hatte die Schwellung erheblich nachgelassen, doch den Schmerz fühlte Megan noch immer. Sie mahnte sich zur Geduld. Bald würde es nicht mehr wehtun. Und dann kehrten hoffentlich
auch ihre Erinnerungen zurück.
Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser. In der bewegten Oberfläche sah sie ein kleines ovales Gesicht mit großen Augen. Mit den Fingern strich sie über ihre Nase sowie die hohen Wangenknochen und schob sich das lange Haar aus dem Gesicht, um es besser erkennen zu können. Zu ihrem Bedauern erblickte sie indes nur das Gesicht einer Fremden.
Erneut tauchte sie ins Wasser und schwamm schnell. Es half sogar, ihre Enttäuschung abzuschütteln. Als sie schließlich wieder
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