Jenseits des Mondes
Finger, und ich fühlte mich ihm wieder so verbunden wie früher. Das tat gut, vor allem nach den treulosen Gedanken, die mich am Tag zuvor gequält hatten.
Ruth räusperte sich und schob uns eine Mappe hin. Sie war sichtlich nervös. Nach einer kurzen Pause flüsterte sie: »Ich glaube, dass die Erdbeben, die es gerade überall auf der Welt gegeben hat, das erste Zeichen sind.«
»Erdbeben?«, sagte Michael.
Ruth sah ihn konsterniert an. »Das Beben der Stärke sieben vor ein paar Tagen in der Karibik, das so große Zerstörung angerichtet hat? Und die Siebener- und Achterbeben in China, Chile, Japan und Indonesien letzte Woche? Vielleicht hast du von denen nichts gehört, die spielen in der Berichterstattung keine so große Rolle.«
Manchmal hatte Ruth einen Hang zu etwas unglücklichen Formulierungen. In der Regel immer dann, wenn es am wenigsten passte.
»Natürlich habe ich Nachrichten gesehen«, gab Michael beleidigt zurück. »Was ich meinte, war: Wie können die Erdbeben ein Zeichen sein? Ein Zeichen wofür?«
»Vielleicht sollte ich kurz zurückspulen. Ihr habt ja sicher schon mal vom Buch Henoch gehört, oder?«
Wir nickten. Ich hatte das Buch sogar selbst gelesen, in Boston in der Andover-Harvard Theological Library. Außerdem hatte Ezekiel uns mit einigen langen und bedrohlich klingenden Zitaten daraus beehrt. Mein Magen machte einen unangenehmen Satz.
»Okay, dann wisst ihr ja auch, dass im Buch Henoch die Entstehung der Nephilim und das Erscheinen des sogenannten Auserwählten beschrieben wird. Einige Bibelexperten vertreten die Theorie, dass dieser Auserwählte zurückkehren wird, wenn die Endzeit naht. Der Auserwählte ist der Einzige, der das Ende der Welt abwenden und die Erde – sowie alle Menschen, die auf ihr leben – vor der totalen Vernichtung retten kann. Oder vor der Versklavung durch die dunklen Mächte, je nachdem, welchen Experten man glauben möchte.«
Ruth räusperte sich erneut, dann fuhr sie fort: »In der Bibel wird die Endzeit vor allem in der Offenbarung beschrieben. Das ist eines der vielschichtigsten und kompliziertesten Bücher der Bibel. Darin überreicht Gott einer Figur, die ›das Lamm‹ genannt wird, eine Schriftrolle beziehungsweise ein Buch. Das Lamm wird gemeinhin als eine messianische Gestalt gedeutet, so ähnlich wie der Auserwählte. Dieses Buch hat sieben wächserne Siegel, von denen jedes für ein bestimmtes Ereignis oder Vorzeichen steht, das vor der endgültigen Vernichtung der Welt eintreten wird. Des Weiteren werden auch noch sieben Posaunen erwähnt – sieben weitere Vorzeichen –, die sich möglicherweise nach denen der sieben Siegel ereignen werden. Da die meisten Wissenschaftler sich aber nicht weiter mit den Posaunen befassen, habe ich sie auch links liegenlassen und mich ganz auf die sieben Siegel konzentriert. Etwas vereinfacht ausgedrückt, bedeuten die sieben Siegel Folgendes: Erdbeben, Hunger, Seuchen, Wirtschaftskrise, Verfolgung der Gläubigen, Krieg und am Schluss das Erscheinen eines falschen Propheten oder Herrschers, der scheinbar alle Menschen im Angesicht der Zerstörung vereint, in Wirklichkeit aber ganz andere, finstere Pläne hat. Dieser Herrscher wird als eine Art Anti-Messias beschrieben. Er – oder sie – tritt auf den Plan, sobald das siebte Siegel geöffnet wurde, und laut Offenbarung wird er der Welt und den Menschen alle nur erdenklichen Abscheulichkeiten antun. Um das Ende abzuwenden, muss das Lamm – oder der Auserwählte – verhindern, dass die sieben Siegel geöffnet werden.«
Ruth holte tief Luft, bevor sie weitersprach. »Ich habe die Nachrichten verfolgt und nach Hinweisen gesucht. Ich wollte sehen, ob eure Bemühungen, so zu tun, als wüsstet ihr von nichts, überhaupt Wirkung zeigen. Inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, dass dem nicht so ist.«
Mir wurde übel. »Was meinst du damit?«
»Ich glaube, die Erdbeben sind das erste Zeichen.«
Michael entzog mir seine Hand. »Erdbeben hat es doch schon immer gegeben«, widersprach er, »ohne dass gleich das Ende der Welt vor der Tür stand.«
Ruth bat uns, die Mappe aufzuschlagen, die sie uns hingelegt hatte. Darin befanden sich mehrere Zeitungsartikel, Tabellen und Diagramme sowie eine Zusammenfassung vergangener und gegenwärtiger Schreckensereignisse auf der ganzen Welt. Wenn Ruth etwas machte, dann machte sie es gründlich.
»Zu keinem Zeitpunkt innerhalb der Geschichte hat es so viele Erdbeben vergleichbarer Stärke innerhalb eines so kurzen Zeitraums
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