Jenseits des Mondes
meiner Tasche. »Ich muss jetzt nach Hause, die Stunde ist um.«
Auch Michael erhob sich. »Ich muss auch los. Wir haben morgen Abend ein Spiel.«
Wie konnte er jetzt an Football denken? Mir lag eine giftige Bemerkung auf der Zunge, aber dann verkniff ich sie mir. Vielleicht klammerte sich Michael bloß an seine Rolle als passionierter Footballspieler. So, wie ich mich – wenngleich nur kurz – an meine Rolle als Englisch-Musterschülerin geklammert hatte. Ich hatte nicht das Recht, ihn zu verurteilen. Wir hatten gemeinsam beschlossen, an unserer Scharade festzuhalten. Bis auf weiteres.
Neun
D a wir dazu verdammt waren, weiterhin die Unwissenden zu mimen, verabredete ich mich mit Ruth, um gemeinsam Michaels Footballspiel anzuschauen. Als treue Freundin hatte ich bisher bei jedem seiner Spiele auf der Tribüne gesessen und ihn angefeuert, auch wenn ich mir nicht viel aus Sport machte. Michael und ich fanden, dass es am besten wäre, unsere alten Gewohnheiten beizubehalten.
Wie die meisten anderen Schüler saßen Ruth und ich nach Schulschluss in der Bibliothek und schlugen die Zeit bis zum Spielbeginn tot, indem wir Hausaufgaben machten und uns unterhielten. Niemand wollte nach Hause fahren, weil das unweigerlich den Verlust seines Parkplatzes zur Folge gehabt hätte. Die Footballmannschaft der Tillinghast High war so gut, dass sie auch außerhalb der Schule viele Fans hatte.
Was mich anging, war es sowieso klüger, wenn ich mich so wenig wie möglich zu Hause blicken ließ. Ich hatte Angst, dass ich, wenn ich zu viel Zeit mit meinen Eltern verbrächte, am Ende mit allem herausplatzen oder wieder sauer auf sie werden würde, weil sie mir die Sache mit meinen leiblichen Eltern all die Jahre verschwiegen hatten. Nein, in der Bibliothek war ich momentan definitiv besser aufgehoben.
Ruth und ich gingen früh zum Stadion, um uns gute Plätze zu sichern. Eine weise Entscheidung, wie sich schnell herausstellte. Obwohl es noch gut eine Stunde bis zum Anpfiff war, tummelten sich bereits zahlreiche Schüler, Eltern und Fans aus der Stadt auf den Rängen. Uns gelang es, zwei Sitzplätze mit direktem Blick auf das Spielfeld und die Seitenlinie zu ergattern. Ich bewunderte Michael für seine sportliche Leistung, aber am meisten mochte ich es, sein Gesicht zu sehen, wenn er einen Spielzug erfolgreich beendet hatte und sich unbeobachtet fühlte.
Als Ruth und ich unser Popcorn aufgegessen und unsere Colas ausgetrunken hatten – ein etwas dürftiger Ersatz fürs Abendessen –, waren die Tribünen bis zum letzten Platz gefüllt, und die Zuschauer waren voller Erwartung. Ich spürte, wie sich die Spannung immer weiter aufbaute, und wider Willen ließ ich mich von der allgemeinen Begeisterung anstecken. Als Michael mit seiner Mannschaft aufs Spielfeld gelaufen kam, sprang ich wie alle anderen laut jubelnd von meinem Platz auf.
In der blauweißen Footballuniform unserer Schule sah er einfach umwerfend aus. Sie betonte seine breiten Schultern und seine muskulösen Arme und Beine, auch wenn ich natürlich als Einzige wusste, welche Kraft wirklich in seinem Körper steckte. Bei seinem Anblick blieb mir buchstäblich die Spucke weg.
Ich schaute zu, wie er sich mit den anderen auf die Bank setzte. Ein Trainerassistent kam zu ihm, raunte ihm einige Anweisungen ins Ohr, und Michael nickte. Obwohl der Helm einen Großteil seines Gesichts verdeckte, beobachtete ich sein Mienenspiel, während er ungeduldig auf den Anpfiff wartete. Irgendwie musste er meinen Blick gespürt haben, denn er drehte sich zu mir um und lächelte.
Einen Augenblick lang gab es nur uns beide. Keine johlende Menge, keine Lautsprecherdurchsagen, keine Musik. Nur Michael und Ellie.
Der Pfiff des Schiedsrichters setzte dem Moment der Zweisamkeit jäh ein Ende. Die nächsten zweieinhalb Stunden vergingen wie im Flug. Im Nachhinein hätte ich keinen Spielzug unserer Mannschaft oder auch nur eine von Michaels Glanzleistungen – von denen es viele gab – beschreiben können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich war so mitgerissen von der jubelnden Masse und dem anschließenden Siegestaumel, dass es mir vorkam, als hätte jemand das ganze Spiel direkt bis zum Schlusspfiff vorgespult.
Als die Spieler nach der Partie an der Seitenlinie zusammenkamen, um gemeinsam vom Platz zu gehen, überkam mich plötzlich das Gefühl, dass ich unbedingt zu Michael musste. Mir ging nicht aus dem Kopf, wie atemberaubend er unten auf dem Spielfeld ausgesehen hatte.
»Ich gehe
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