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Jenseits des Mondes

Jenseits des Mondes

Titel: Jenseits des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Terrell
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ich mir doch zuallererst Sorgen gemacht, ob ihm etwas passiert war, statt wie selbstverständlich davon auszugehen, dass er schmollte.
    Ich nahm meine Tasche von der Schulter und kramte nach meinem Handy. Meine Hand zitterte vor Nervosität, als ich die Kurzwahltaste für Michael drückte. Während ich dem Freizeichen lauschte und betete, dass er abnehmen würde, drang plötzlich das Geräusch entfernter Schritte an mein Ohr. Zuerst klangen sie, als wären sie weit weg, aber dann waren sie auf einmal ganz nah.
    Ich fuhr herum, bereit, mich meinem Verfolger zu stellen. Oder wegzufliegen. Schließlich war ich ein halber Engel.
    Die Straße war leer.
    Wahrscheinlich noch jemand, der es eilig hatte, zu seinem Wagen zu kommen. Ich war genauso paranoid wie gestern mit Rafe. Nicht dass ich nicht allen Grund dazu gehabt hätte. Als ich in die Seitenstraße einbog, in der mein Auto stand, fragte ich mich, wieso ich nicht auf die naheliegende Idee gekommen war, mit Ruth zusammen zu einem unserer Autos zu gehen und dann zum anderen zu fahren.
    Meine Gedanken kehrten zu Michael zurück, und ich versuchte es noch einmal auf seinem Handy. Auch diesmal ging er nicht ran. Um bei ihm zu Hause anzurufen, war es streng genommen schon zu spät, aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Ich musste wissen, ob es ihm gutging. Im selben Moment, als ich die letzte Ziffer seiner Festnetznummer eintippte, hörte ich hinter mir eine Stimme.
    »Haben Sie vielleicht ein bisschen Kleingeld, Miss?«
    Ich drehte mich um und sah einen abgerissenen Mann auf den Stufen vor einem geschlossenen Schreibwarenladen sitzen. In der einen Hand hielt er eine Dose, in der anderen ein handbeschriebenes Stück Pappe. Er fror sichtlich in der kalten Abendluft. Zuvor hatte ich ihn gar nicht bemerkt. Allerdings saß er ja auch nicht gerade auf Augenhöhe.
    Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück – weil er so zerlumpt aussah, weil ich neuerdings vor jedem Fremden Angst hatte und weil mich die Vorstellung der apokalyptischen Gefahren, die jederzeit über uns hereinbrechen konnten, total überforderte. Dann schoss mir das Wort »Heuchler« durch den Kopf. Wie konnte ich Spenden für die Opfer in irgendwelchen abgelegenen Erdbebengebieten sammeln, wenn ich nicht mal bereit war, einem Obdachlosen in meiner Heimatstadt ein bisschen Kleingeld zu geben? Wie konnte ich Michael vorwerfen, dass ihm sein Mitgefühl abhandengekommen war, wenn ich selbst keins hatte?
    Rasch ließ ich meine Hand in meiner Tasche verschwinden. Während ich nach meinem Portemonnaie suchte, meinte er: »Vielen Dank, Miss. Jeder Cent hilft.«
    »Alles Gute.« Ich ließ eine Handvoll Münzen und ein paar zerknitterte Dollarscheine in seine Dose fallen, dann machte ich, dass ich weiterkam. Auch ohne den Gedanken an den bevorstehenden Weltuntergang und mir übel gesinnte übernatürliche Kreaturen, die hinter jeder Ecke lauern konnten, war mir die Situation ein bisschen unheimlich.
    »Möchtest du vielleicht noch mehr helfen, Ellspeth?«, rief er mir hinterher.
    Ich wirbelte herum. Das war kein Obdachloser. Selbst aus der Entfernung sah ich, dass seine Augen sich verändert hatten. Auf einmal lag ein unnatürlicher Glanz darin. Es war einer der Gefallenen.
    Wie hatte ich so vertrauensselig sein können? So dämlich?
    Ich spurtete los. Als ich um die Ecke bog, wo mein Auto stand, rannte ich direkt in ihn hinein. Der Gefallene stand vor mir. Er war so schnell gewesen, dass ich nicht mitbekommen hatte, wie er mich überholt hatte.
    Inzwischen sah er gar nicht mehr abgerissen aus, auch wenn er immer noch sein Obdachlosen-Kostüm trug. Im Gegenteil, er war geradezu atemberaubend schön. Locken aus dunklem Gold umrahmten sein makelloses Gesicht, und seine Haut war glatt und weiß wie feinstes Porzellan. Er sah aus wie ein Engel von Michelangelo. Wer weiß, vielleicht hatte er ihm ja sogar vor Jahrhunderten Modell gestanden? Mit Sicherheit hatte ich noch nie einen Menschen gesehen, der ihm in Schönheit auch nur annähernd gleichgekommen wäre.
    Er hob die Hand und strich mir mit einem Finger über die Wange. Die Berührung war zärtlich, trotzdem wich ich ängstlich zurück. Gefallene Engel waren bekannt dafür, dass sie andere mit ihrer Stimme und ihrer Berührung beeinflussen konnten, und ich wäre schon einmal fast auf ihre Tricks hereingefallen.
    Aber dann begann er zu sprechen, und seine Stimme klang so berauschend, dass ich gar nicht anders konnte, als die Berührung zuzulassen. Ich stand da wie

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