Jenseits des Mondes
Coach, dass das Spiel weitergehen konnte. Deswegen hatte ich fest damit gerechnet, irgendetwas zu hören, seien es auch nur die Schritte vom Trainer, der Michael wegschleppte.
Nichts.
Langsam drückte ich die schwere Tür zur Kabine auf. Ich zuckte zusammen, als sie knarrte, schlüpfte hinein und begann, mich umzuschauen. Obwohl ich jeden Winkel des labyrinthartigen Raumes absuchte, fand ich von den beiden keine Spur.
Ich wollte gerade wieder gehen, als ich das dumpfe Geräusch einer zufallenden Tür hörte. Woher war es gekommen? Soweit ich wusste, hatte die Umkleidekabine nur einen Ausgang. Ich lief in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen zu sein schien, und entdeckte die Tür zu einer Art Kammer, die mir bei meiner ersten Durchsuchung gar nicht aufgefallen war. Ich gab mir innerlich einen Tritt dafür, drehte vorsichtig am Türknauf und wappnete mich für den übersinnlichen Widersacher, der dahinter auf mich lauerte.
Stattdessen sah ich mich schmutzigen Wischmopps, Regalen voller Putzmittel und einem Sicherungskasten gegenüber. Wo steckten Michael und der Coach? Dann sah ich es. In der hinteren Ecke der schwach beleuchteten Kammer konnte ich den Umriss einer schmalen Tür erkennen. Sie war so staubverkrustet, dass man sie fast nicht von der Wand unterscheiden konnte. Fast.
Die Tür hatte keinen Griff, also zwängte ich sie mit den Fingernägeln auf. Dann quetschte ich mich durch die schmale Öffnung. In einem engen, dunklen Gang mit niedriger Decke führten Stufen in die Tiefe. War dies der legendäre Verbindungstunnel zwischen dem Stadion und der Schule, von dem alle erzählten, aber den keiner je mit eigenen Augen gesehen hatte?
Etwas in mir schreckte zurück. Ich konnte es mir nicht erklären, aber der Gedanke, unter der Erde zu sein, flößte mir tiefes Unbehagen ein. Vielleicht lag es daran, dass ich ein Wesen der Lüfte war.
Ich kämpfte meinen Widerwillen nieder und stolperte die Stufen hinunter. Keine Ahnung, wann der Tunnel zuletzt benutzt worden war und wofür. Ich hatte keine Wahl. Michael war irgendwo da drinnen, und er brauchte mich mehr als jemals zuvor.
Im schwachen Licht, das aus der Besenkammer hereinfiel, und im Schein der Glühbirnen, die in großem Abstand von der Decke hingen, sah ich gleich, dass der Tunnel zum Fliegen zu eng war. Ich war auf menschliche Arten der Fortbewegung angewiesen, aber selbst zum Rennen war nicht genug Platz. So schnell ich konnte, ging ich seitwärts in die einzig mögliche Richtung: nach vorn. Angst machte sich in mir breit, und ich begann, mich zu fragen, ob ich nicht vielleicht geradewegs in eine Falle lief. Hatte Coach Samuel Michaels Verletzung und die Flucht geplant, um mich an diesen gottverlassenen Ort zu locken?
Innerhalb weniger Minuten tauchte vor mir ein helles Licht auf. Der Tunnel verbreiterte sich, und ich wurde schneller. Ich glaubte, weiter vorn die Silhouette eines Menschen ausmachen zu können. Da ich ihn unbedingt kriegen wollte, aber immer noch nicht fliegen konnte, spielte ich mit dem Gedanken, mich zu projizieren …
Bis eine Stimme die Dunkelheit und meine Gedanken durchdrang. Vor lauter Schreck ging mir die Konzentration flöten.
»Ellspeth, es ist unmöglich, auf so engem Raum zu projizieren. Bitte unternimm erst gar nicht den Versuch. Schließlich wollen wir nicht, dass der Auserwählten etwas zustößt.«
Ich erstarrte. Der da vorn wusste genau, wer und was ich war. Und nicht nur das: Er wusste sogar, was ich gerade machte.
Da es definitiv nicht Michaels Stimme gewesen war, ging ich davon aus, dass es Samuel sein musste. Wer sollte es sonst sein? Ich ging weiter und wollte gerade eine Antwort rufen, als ich plötzlich vor einer Wand stand. Der Tunnel gabelte sich in zwei einander gegenüberliegende schmale Gänge, von denen der rechte stockdunkel, der linke hingegen etwas heller war. Seltsamerweise konnte ich Michael und den Coach nirgendwo entdecken. Wie war es möglich, dass sie einen derart großen Vorsprung vor mir hatten?
Was jetzt?
In dieser einen Sekunde des Zögerns tauchte eine Gestalt aus der Schwärze des rechten Tunnels auf. Und es war weder Samuel noch Michael.
»Semjaza hat mich geschickt«, sagte die Gestalt, während sie mit wiegenden Schritten auf mich zukam.
Semjaza – das musste dann wohl Coach Samuel sein. Woher kannte ich den Namen noch gleich? Richtig, Rafe hatte ihn erwähnt, als er mir die Geschichte der Zweihundert erzählt hatte, und dann noch mal, als er die sechs Gefallenen der
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