Jenseits des Mondes
Boston zwischen Michael und mir schiefgelaufen war. Michael war schon seit einer ganzen Weile in Gefahr – körperlich und seelisch. Seit Wochen hatte der Coach auf ihn eingeredet, um einen Keil zwischen uns zu treiben. Geschickt hatte er seine Unsicherheit und Eifersucht ausgenutzt, seine Zweifel geschürt und sein Ego gefüttert. Für den Coach war Michael nicht weniger empfänglich gewesen als für Ezekiel, auch wenn es sich diesmal um eine andere Art der Beeinflussung handelte. Eine, die so subtil war, dass Michael selbst gar nicht merkte, was passierte.
Jede Faser meines Wesens – Mensch und Engel – schrie danach, auf der Stelle aufs Feld zu rennen. Ich musste Michael von hier wegschaffen, ihn irgendwo in Sicherheit bringen – bevor der Coach ihm noch weiter »half«, indem er dafür sorgte, dass Michael keine ärztliche Hilfe bekam oder ihn trotz seiner Verletzung wieder auf den Platz schickte.
Gerade als ich losrennen wollte, passierte unten auf dem Spielfeld wieder etwas Unvorhergesehenes, und alle sprangen von ihren Sitzen auf. Ich drängelte und schubste mich durch die tobenden Fans, um so schnell wie möglich nach unten zu kommen. Als sich die Menge ganz kurz teilte, sah ich, wie zwei Sanitäter auf Michael zugeeilt kamen.
Zu Fuß war ich nicht schnell genug. Instinktiv machte sich mein Körper flugbereit. Wenn ich meine wahre Natur offenbaren musste, um Michael zu retten, dann konnte ich es eben nicht ändern. Denn das alles hier – Highschool-Footballspiele, fröhliches Beisammensein, die Schönheit eines kühlen Herbstabends – würde ein für allemal der Vergangenheit angehören, wenn ich Michael nicht rettete und Samuel daran hinderte, das nächste Siegel zu öffnen. Welches auch immer das war.
Ruth war dicht hinter mir. Sie bemerkte die Veränderung in meinem Körper – wie sich meine Schulterblätter dehnten, den Blick höchster Konzentration in meinen Augen. Da sie mich und Michael heimlich beim Fliegen beobachtet hatte, wusste sie sofort, was ich vorhatte. Sie hielt mich fest, so dass ich nicht abheben konnte.
»Es gibt noch einen anderen Weg!«, schrie sie über den Lärm hinweg und zeigte auf eine Lücke in der Menge. »Da drüben!«
Ich schob mich darauf zu. Mit ein bisschen Glück würde ich es rechtzeitig schaffen. Aber dann wäre Ruth schutzlos, und wer garantierte mir, dass Coach Samuel sie sich nicht schnappen würde?
Hilfesuchend drehte ich mich zu ihr um. »Was soll ich machen? Ich will dich nicht allein lassen!«
Sie winkte mir, ich solle weiterlaufen, sie käme schon zurecht. Ich zögerte kurz, aber sie schubste mich vorwärts. Ich tauchte kopfüber in die Menge.
Jetzt hing alles von mir ab.
Einundvierzig
I ch kämpfte mich durchs Gedränge und rannte die Treppe hinunter. Rafe hätte gestaunt, wie schnell mich meine Menschenbeine trugen. Jede Sekunde zählte. Ich musste Michael aus den Klauen von Coach Samuel befreien, bevor es zu spät war.
Ich mogelte mich an den Sicherheitsleuten vorbei, die die Menge in Schach hielten, und rannte aufs Feld. Schiedsrichter, Spieler und Sanitäter standen um die Stelle herum, wo Michael gestürzt war. Ich quetschte mich zwischen ihnen hindurch und hoffte inständig, dass Michael bei Bewusstsein war und dass es ihm gutging.
Er war verschwunden.
Ich drehte mich zum Schiedsrichter um, der neben mir stand, und schrie: »Wo ist er? Michael Chase, wo ist er hin?«
»Miss, Sie haben hier nichts zu suchen«, wies er mich streng zurecht, um gleich darauf zu rufen: »Sicherheitsdienst –«
Weiter ließ ich ihn nicht kommen. Ich packte ihn am Arm und befahl: »Sie sagen mir jetzt sofort, wo Michael Chase ist!«
Er schwieg verdattert, dann zeigte er auf den Durchgang, der zu den Kabinen führte. »Der Coach ist mit ihm reingegangen, Miss. Er hat gesagt, drinnen wartet ein Arzt auf ihn.«
Ich ließ seinen Arm los und rannte auf die Kabinen zu – direkt in die Sicherheitsleute hinein, die den Hilferuf des Schiedsrichters vernommen hatten. In Nachahmung eines von Michaels Football-Manövern täuschte ich an, schlug – mit einer kleinen Dosis engelsgleicher Schnelligkeit – einen Haken um sie herum und lief den Gang entlang, der zu den Umkleidekabinen der Spieler führte.
Als ich mich den Türen näherte, verlangsamte ich meine Schritte und lauschte angestrengt, ob ich Coach Samuel oder Michael irgendwo hören konnte. Der Gang zu den Kabinen war vollkommen leer, Mannschaft und Stab warteten draußen auf dem Platz auf ein Wort vom
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