Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Räderknirschen und dem Hufgeklapper, den Stimmen von der Straße her. Es tat weh, hier zu sein, weil dieser Raum so von Jeremys Wesen durchdrungen war, und gleichzeitig war es tröstlich, ihn hier zu spüren; eine zwiespältige, beinahe widersprüchliche Empfindung, die Grace ein halb wohliges, halb unangenehmes Kribbeln im Bauch verursachte. Sie wandte sich um und blieb vor dem Kleiderschrank stehen.
»Sie können ihn gern aufmachen, Grace – wenn Sie möchten.«
Langsam öffnete Grace die beiden Türen. Jeremys Geruch strömte ihr entgegen, der Geruch nach Sägespänen und nach Bienenwachs, und ihre Finger betasteten die Kleidungsstücke. Sein Frack – damals, auf Givons Grove. Der Anzug, den er an meinem einundzwanzigsten Geburtstag getragen hat. Das Jackett, das er mir im Gewitter auf Estreham um die Schultern legte, als er mich fragte, ob ich ...
Grace vergrub ihr Gesicht im Ärmel der Jacke. Sie konnte nicht genug bekommen von diesem Geruch, und ihre Knie gabennach. Mrs Danvers nahm sie bei den Schultern und führte sie zum Bett, ließ sich neben Grace darauf nieder.
»Ich kann es einfach nicht verwinden«, stieß Grace hervor. »Jeder sagt mir, dass ich das muss. Genau wie meine Schwester es muss. Aber ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht. Und ich will es auch nicht!« Sie hob den Kopf. »Entschuldigung. Für Sie muss es noch viel schrecklicher sein.«
Ein winziges Lächeln schien auf dem Gesicht von Mrs Danvers auf. »Ich glaube nicht, dass man aufwiegen kann, für wen es schlimmer ist und für wen ein bisschen weniger.« Sie zögerte, dann legte sie ihre Hand auf Grace’ Wange. »Wissen Sie, was mir die ganze Zeit über ein Trost ist und mit jedem Brief von Ihnen mehr ein Trost wurde? Dass ich seit jenem Tag bei der Parade zumindest die Hoffnung hatte, dass es da tatsächlich eine Frau gibt, die mein Sohn liebt und die ihn wiederliebt. Und dass sein Vertrauen zu Ihnen so groß war, dass er Ihnen sogar einen Antrag gemacht hat ... Es stimmt mich froh, dass ihm das vergönnt war.« Jeremys Mutter verstummte für einen Augenblick, und sie zog ihre Hand wieder zurück. »Sie wissen vermutlich nicht allzu viel über meinen Sohn, nicht wahr?«
Über Grace’ Züge zuckte ein kleines Lächeln. »Nicht allzu viel, das ist richtig.« Aber genug. Es war genug.
»Ja, er war immer sehr verschlossen. Um ehrlich zu sein, ich hätte nicht geglaubt, dass er überhaupt je an Heirat denken würde. An Familie. Ich fürchte, daran sind wir schuld, seine Eltern. Oder vielmehr die Umstände, unter denen er aufgewachsen ist.«
Grace richtete sich auf und blickte Mrs Danvers direkt an. »Wie meinen Sie das?«
»Matthew«, die Stimme von Jeremys Mutter wurde weich, so wie ihre Augen, die über Grace’ Schulter in die Ferne wanderten, und für einen Moment glaubte Grace, einen Blick auf Mrs Danvers erhaschen zu können, als sie noch jung gewesen war, vielleicht in ihrem, Grace’, Alter. »Matthew war ein feiner Mann, als wir uns kennenlernten. Nicht unbedingt einer von der redseligenSorte, aber durchaus lebenslustig. Humorvoll. Aufrichtig. Ich war ganz verrückt nach ihm und wusste sehr schnell, das ist der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen will. Wir haben in aller Eile geheiratet, bevor er in den Krieg musste. Wissen Sie«, ihre Stirn zerfurchte sich, und sie strich energisch mit der linken Hand über den Rock; die linke Hand, die noch immer der Ehering zierte. »Ich habe es früher für eine Mär gehalten, wenn es hieß, Menschen seien verrückt geworden vor Schmerz. Aber es ist so: Menschen können den Verstand verlieren vor Schmerz. Mein Mann wurde im Krieg schwer verwundet und bekam dann Wundbrand. Um ihm das Leben zu retten, wurden ihm beide Beine und ein Arm abgenommen. Ohne Betäubungsmittel, weil es keine gab.« Grace entfuhr ein erstickter Laut. Ihre Finger schlossen sich um die Rechte von Jeremys Mutter, die den Händedruck erwiderte. »Matthew«, fuhr sie fort, und eine Träne lief über ihre Wange, »Matthew kam nicht nur als Invalide wieder nach Hause und war auf meine Hilfe angewiesen. Er war nicht mehr der Mann, den ich geheiratet hatte. Nicht einfach nur verändert – er war ... bitter. Bitter und böse. Anders kann ich es nicht sagen. Ich habe mich bemüht, ihn zu lieben, aber ich konnte es nicht. Ich konnte es einfach nicht, da war nichts Liebenswertes mehr an ihm, auch wenn ich ahnte, was er durchgemacht hatte, warum er so geworden war.« Ihre Hand zitterte, und sie wischte mit der
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