Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
bärtigen Mann auf dem Bild nur sehr ähnlich sah. Mrs Danvers kam mit einem voll beladenen Tablett zurück, und hastig trat Grace von der Wand weg. »Entschuldigen Sie vielmals – ich wollte nicht neugierig sein!«
Jeremys Mutter stellte das Tablett ab und schmunzelte verhalten. »Das ist doch ganz verständlich, Miss Norbury. Ich fände es eher seltsam, wenn Sie hier wären, ohne zumindest ein bisschen neugierig zu sein. Hier, bitte – nehmen Sie es ruhig mit an den Tisch.« Sie löste das Bild von dem Haken in der Wand und reichte es Grace, die wieder Platz nahm. »Mein verstorbener Mann Matthew«, erklärte sie, während sie je ein Gedeck für Grace und sich hinstellte, Milchkännchen und Zuckerdose und eine Schale mit Gebäck, ihnen beiden einschenkte und sich setzte. »Das war kurz vor unserer Hochzeit und bevor er auf die Krim ging. Neunundzwanzig war er damals.«
Die beiden Frauen sahen sich kurz an, und jede wusste, was die andere dachte: Ungefähr so alt, wie Jeremy jetzt ist. Wäre. Ist?
Grace schluckte und vertiefte sich wieder in die Photographie. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht mit den Fingern über das Glas zu streichen. »Die Ähnlichkeit ist wirklich sehr groß. Das könnte auch ein Bild von Jeremy sein, wenn er sich einen Bart hätte stehen lassen.«
»Ja, das Walisische meines Mannes schlug bei Jeremy sehr deutlich durch. Haben Sie auch eine Photographie von Jeremy?«
Grace nickte. »Allerdings nur das Gruppenbild seiner Kompanie in Sandhurst.« Ihre Stimme bekam dabei eine Schwere wie unter einer zu großen Last. Stolz und ernst sah Jeremy darauf aus,umringt von seinen Freunden. Stephens empfindsames, für einen Offizier vielleicht fast zu zartes Gesicht. Leonards strahlende Miene, auch wenn er nicht ausdrücklich lächelte, und Roystons selbstbewusste Haltung. Und Simon, Simon, der verschmitzt in die Kamera schaute. Eine Erinnerung an so schöne, so unbeschwerte Tage, die das Leben längst weggefegt hatte. Grace spürte Mrs Danvers’ Blick auf sich.
»Es hat mich sehr betrübt, als ich von Ihnen erfahren habe, wie es Jeremys Freunden ergangen ist. Für Ihre Familie muss das alles sehr schrecklich sein.«
»Ja, das ist es auch.« Grace’ Worte waren kaum zu hören.
Jeremys Mutter nippte an ihrem Tee und schwieg. Dann kam es leise von ihr: »Nun muss ich Sie um Entschuldigung bitten für meine Neugierde, Miss Norbury ...«
»Bitte nennen Sie mich doch einfach Grace!«
Ein kleines, halbes Lächeln zeigte sich auf Mrs Danvers’ Zügen. »Grace.« Es war, als spürte sie den ausgesprochenen Lauten nach. »Ein wirklich schöner Name, er passt zu Ihnen. – Verzeihen Sie die neugierige Frage einer Mutter, Grace ... Sie und mein Sohn standen sich wohl sehr nahe?«
»Wir ...« Grace’ Kehle war wie zugeschnürt. Sie räusperte sich, damit sie weitersprechen konnte. »Wir hatten uns heimlich verlobt, bevor ... bevor er nach Chichester ging. Und als er mir aus Cairo schrieb, er sei zum Captain befördert worden – da«, sie stieß geräuschvoll den Atem aus, »da war ich so zuversichtlich, dass wir heiraten könnten, sobald er zurückkäme.« Sie ließ den Kopf hängen. »Ja, das hatte ich gehofft.« Ihre Hände zitterten so heftig, dass sie die Photographie auf den Tisch legte, bevor sie sie noch fallen ließ und das Glas zerbrach.
Die zwei steilen Falten zwischen den Brauen von Jeremys Mutter wurden tiefer. Schweigend trank sie ihren Tee und stellte die Tasse lautlos auf die Untertasse zurück. »Möchten Sie vielleicht sein Zimmer sehen?«
Grace zögerte, unsicher, ob sie das ertragen könnte, doch derWunsch danach war stärker. »Das würde ich sehr gern. Wenn ich darf.«
»Natürlich. Kommen Sie.«
Es war gleich nebenan, ein schmaler Raum, kaum mehr als eine Kammer, spartanisch eingerichtet mit einem schmalen Bett links hinter der Tür, einem Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Wand und einem Tisch mit einem Stuhl. Grace trat an den Tisch und betrachtete die Bücher auf dem einfachen Bord darüber, strich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken. Waffenkunde. Militärstrategie. Armeegeschichte. Ein Handbuch über den Befestigungsbau und eine kurze Geschichte Großbritanniens. Eine Sammlung mit französischen Gedichten und eine mit englischen. Shakespeare. Sturmhöhe.
Ein Lächeln flackerte über Grace’ Züge. Ihre Augen wanderten weiter durch das Zimmer, erfassten die Aussicht durch das Fensterchen auf die Häuserzeile gegenüber, und sie lauschte dem
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