Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Wärme auf seinem Gesicht, an seiner Brust spürte, bis er ganz eingehüllt war in ihren Duft, der ihn an frisch gebackenes Brot erinnerte und an saftige Birnen, frischvom Baum. Seine Lider schlossen sich, als er Beckys Hand auf seiner Wange fühlte, die noch kühl war vom Wasser und die angenehm nach Lavendelseife roch. Ihre Lippen berührten seine Stirn, seine Nase, seine Wange, lösten ein angenehmes Kitzeln in Stephens Magen aus, vor allem, als sie sich auf seinen Mund legten und dort verweilten. Seine Lider flatterten, als ihre Lippen sich wieder von seinem Mund lösten. Er schlug die Augen auf und sah Becky verwundert an. Sie lächelte nur, und zaghaft stahl sich auch ein kleines, kaum sichtbares Lächeln auf Stephens Gesicht.
37
Grace legte den Kopf in den Nacken und bestaunte die gewaltige Kathedrale, die über die Dächer der Stadt hinausragte und gleichsam über die Seelen der Menschen Wache hielt. Mit ihrer längsgerippten Fassade, dem hohen wuchtigen Aufbau dahinter, den schlanken, lang gestreckten Spitzbogenfenstern und den spitzen Fialen, die geradewegs in den Himmel zu ritzen schienen, stellte sie die eindrucksvollste Kirche dar, die Grace je gesehen hatte. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf den Brief in ihrer Hand, überflog noch einmal die Wegbeschreibung, sah sich um und stapfte weiter bergan, über das holprige Kopfsteinpflaster des schmalen Sträßchens, das weiter vorn einen Bogen machte. Zu beiden Seiten reihten sich zweistöckige Backsteinhäuschen mit weißen Fensterrahmen aneinander. Die Schindeln der Dächer waren nicht ganz gleichmäßig ausgerichtet und sahen aus, als wären sie in aller Eile auf das Gebälk genagelt worden. Vor einer schwarz lackierten Tür blieb sie schließlich stehen, vergewisserte sich, dass sie am richtigen Haus angelangt war, und drückte die Tür auf.
Ein dunkles Treppenhaus empfing sie, in dem es ein wenig muffig roch, und sie stieg die Treppe hinauf. Sie atmete ein paar Mal tief durch, um ihren aufgeregten Herzschlag zu beruhigen. Dann ließ sie den Türklopfer gegen das ebenfalls schwarze Holz der Etagentür schlagen.
Schritte kamen näher, und die Tür ging auf.
Jeremys Mutter stand vor ihr, dunkel gekleidet, und obwohl der Flur hinter ihr dämmrig war, sah Grace, dass ihr Gesicht noch müder wirkte als damals, vor über fünf Jahren. Noch mehr Linien hatten sich hineingegraben, schon vorhandene hatten sich vertieft, und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten.
»Guten Tag, Mrs Danvers.« Grace streckte die Hand aus, und als Mrs Danvers sie ergriff, stieg in Grace dieselbe Zuneigung auf, die sie an jenem Tag sogleich zu Jeremys Mutter gefasst hatte.
»Guten Tag, Miss Norbury. Bitte, treten Sie doch ein.« Die Tür fiel hinter Grace zu. »Stellen Sie Ihre Tasche einfach hier ab – und Ihre Jacke und den Hut können Sie gern mir geben. Hatten Sie eine gute Reise?«
»Ja, danke.« Während Grace ablegte und ihre Handschuhe abstreifte, huschten ihre Augen fortwährend umher, durch den kleinen Flur mit den geweißelten Wänden, über die dunklen Türen, die in die einzelnen Zimmer führten, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Hier also hat Jeremy gelebt ...
»Bitte hier entlang, Miss Norbury.« Mrs Danvers führte sie zur letzten Tür auf der rechten Seite. Ein enger Raum, nüchtern eingerichtet mit einem Tisch und vier Stühlen, einem Büfettschrank aus dunklem Holz und mit einer Standuhr, die schwerfällig vor sich hin tickte. Unter dem Fenster stand ein Kanapee mit mokkabraunem Bezug. »Nehmen Sie doch Platz. Entschuldigen Sie nochmals, dass ich Sie nicht vom Bahnhof abholen konnte, aber samstags ist bei uns im Laden immer viel los. Ich bin selbst erst vor gut einer halben Stunde nach Hause gekommen und musste mich noch umziehen. Möchten Sie einen Tee?«
»Ja, sehr gern.«
»Das Wasser müsste auch fast so weit sein. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Mrs Danvers ging hinaus, und Grace konnte sie in der Küche hantieren hören. Sie hatte sich kaum hingesetzt, da sprang sie in ihrer Nervosität schon wieder auf und lief zur Tür. »Ich helfeIhnen gern!«, rief sie über den Flur hinweg in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.
»Danke, lieb von Ihnen, aber das ist nicht nötig!«, schallte es von dort zurück.
Grace’ Blick blieb an einer gerahmten Photographie an der Wand hängen, und ihr Herz machte einen Sprung, als sie glaubte, Jeremy in Uniform darauf zu entdecken. Gleich darauf stellte Grace enttäuscht fest, dass er dem
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