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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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vorüber war und Royston ihm die Pranke entgegenstreckte, um ihm aufzuhelfen, und er die Beine nicht bewegen konnte. Nur der Schock, der Schock, eine vorübergehende Lähmung , hatte er sich all die Wochen vorgesagt, in diversen Lazaretten und während man ihn auf einer Trage über Stock und Stein durchgeschüttelt und zu Wasser wieder in die Zivilisation zurückgebracht hatte. Dass er nie wieder kühles Gras unter seinen bloßen Füßen spüren würde, sonnenwarme Erde oder den Sand der Küste, wie zuletzt in Trinkitat, damit hätte Stephen sich vielleicht abfinden können. Damit, dass er für den Rest seiner Tage keinen Schritt mehr gehen konnte, dass er auf den Rollstuhl angewiesen sein würde. Doch als erwachsener Mann von einem Moment zum anderen in ein Stadium kindlicher Hilflosigkeit zurückgeschleudert worden zu sein, das war nicht zu ertragen. Der Gestank war nicht zu ertragen, der ihn ständig begleitete, selbst wenn er gerade frisch gemacht worden war und der sich auch mit keinem noch so starken Duftwasser übertünchen ließ, und das Gefühl, fortwährend schmutzig zu sein, selbst wenn man ihn gerade gebadet hatte.
    Dabei war es nicht einmal eine Kugel des Feindes gewesen, eine Speerspitze oder eine Schwertklinge, die ihm das Rückgrat zerschmettert hatte, sondern ein Stein. Ein dummer, scharfkantiger Stein, irgendwo auf dem Schlachtfeld, ein dummer, unglücklicher Zufall, der ihn noch nicht einmal zu einem Helden machte. Das Schlachtfeld von Abu Klea, das ihn mit Blut und zerfetztem Fleisch und Todesangst verfolgte bis in den Schlaf, so wie das Schlachtfeld von el-Teb und das von Tamai. Ein Schlaf, der nur noch leicht und kurz und bruchstückhaft war und aus dem ihn ständig seine eigenen gellenden Schreie rissen.
    Sosehr Stephen auch trauerte um Simon und um Jeremy – je mehr er sich dessen bewusst wurde, was es hieß, für den Rest seines Lebens in diesem Zustand gefangen zu sein, desto größer wurde seine Sehnsucht, diesem Zustand ein Ende zu bereiten. Ein für alle Mal. Und vielleicht, vielleicht ließe ein gnädiger Gott Milde walten und schickte seine unsterbliche Seele dorthin, wo er Simon und vor allem Jeremy wiedersah, die er so schmerzlich vermisste.
    Er konnte Becky nicht einmal böse sein, dass sie seinen Plan vereitelt hatte. An ihrer Stelle hätte er vermutlich das Gleiche getan, und der gewaltige Zorn, der sich über Monate hinweg in Stephen aufgestaut hatte, schien mit all den Tränen fürs Erste fortgespült zu sein.
    »Nicht erschrecken«, hörte er Becky über sich wispern. »Ich dreh dich nur eben auf die Seite.«
    Stephen nickte und hielt die Augen geschlossen. Er blinzelte erst, als die Matratze unter ihm wippte, und kniff die Augen gleich wieder zu, als er sah, wie Becky sich die Schuhe auszogund sich neben ihm ausstreckte. Irgendwann war die Neugierde größer als die Scham, und er öffnete langsam die Lider. Becky lag einfach nur da und sah ihn an, ein stilles, glückliches Lächeln auf ihren Zügen. Eine Zeit lang lagen sie so nebeneinander, regungslos, und sahen sich an. Und Stephen wartete darauf, dass seine Brust sich verkrampfte, dass er nach Atem rang, weil Becky so nah bei ihm war. Stattdessen spürte er, wie sein Atem gleichmäßiger und tiefer ging, wie sein Herz ruhiger schlug.
    »Woher wusstest du, was du machen musst – mit mir?«, fragte er dann leise, seine Worte halb vernuschelt hinter einem Zipfel des Kissens. »Gerade eben?«
    Becky wurde rot. »Ich hab mir Bücher über Krankenpflege besorgt. Und die Pflegerinnen ausgefragt, wenn du gerade nicht in der Nähe warst.«
    Stephen nickte verstehend, und obwohl er nicht ganz verstand, was Becky dazu bewogen haben könnte, rührte es ihn an.
    »Da wir gerade bei Büchern sind«, sagte sie leise und zupfte an einem losen Faden des Kissensaums. »Dieser Manfred von Byron ... Das ist ein seltsames Buch!«
    Um Stephens Mund zuckte es, und er drückte den Kissenzipfel davor herunter. »Es ist so lange seltsam , bis man es verstanden hat.«
    Becky reckte sich und sah ihn von unten herauf an. »Erklärst du’s mir?«
    Stephen nickte. »Aber heute nicht mehr. Ich bin zu müde.«
    »Morgen?«
    Er nickte wieder, und das Strahlen auf Beckys Gesicht traf ihn irgendwo tief, tief unten in seiner Magengegend. Wie von selbst streckte sich seine Hand aus. Sanft berührten seine Fingerspitzen Beckys runde Wange, und er war erstaunt, wie weich ihre Haut war. Ohne ihre Augen von den seinen zu lösen, rutschte Becky näher, bis er ihre

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