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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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mich abholst.«
    »Keine Ursache.« Prüfend sah er sie an, und Grace lächelte schwach. Sie wusste, wie mitgenommen sie aussah, blass und mit bläulichen Schatten unter den verquollenen Augen. Der Spiegel im Badezimmer von Sarah Danvers hatte ihr am Morgen das ungeschönte Bild ihres Gesichts gezeigt.
    »Wie war’s?«, erkundigte er sich betont beiläufig, als er ihr die Tasche abnahm und ihr den Arm bot, um sie zu der wartenden Kutsche zu begleiten.
    »Ganz gut«, entgegnete Grace knapp, und sie stiegen ein.
    Grace schwieg beharrlich, während sie über das Pflaster von Guildford holperten und durch die Sommerwiesen und die reifenden Felder ihrer Heimat fuhren, ganz versunken in ihre Gedanken, in ihren Plan. Was sie vorhatte, war nicht nur kühn, sondern geradezu waghalsig, wenn nicht gar wahnsinnig. Sie würde die Menschen, die ihr am liebsten waren, täuschen müssen und brutal vor den Kopf stoßen, und wahrscheinlich würden sie ihr das niemals verzeihen. Falls Grace überhaupt jemals zurückkehrte. Aber tun – tun musste sie es; sie sah keine andere Möglichkeit, wenn sie irgendwann einmal wieder ihren inneren Frieden finden, vielleicht ein neues Leben anfangen wollte. Und Leonard war der einzige Mensch, der ihr einfiel, den sie um Hilfe bitten konnte.
    »Len«, ergriff sie schließlich hinter dem Dörfchen von Wonersh, eingebettet in sanfte grüne Hügel, die an saftige Polster aus Moos erinnerten, das Wort. Aufmerksam sah Leonard sie von seinem Platz gegenüber an. »Du hast mir einmal gesagt, du wolltest nur, dass ich glücklich bin. Dass du immer für mich da sein würdest, wenn ich dich brauche. Erinnerst du dich?«
    Er lächelte. »Sicher doch! Am Abend der Verlobung von Royston und Sis auf Estreham. Nachdem du mich vor den Avancen von Myrtle und Myra gerettet hast.«
    Grace ging auf seinen heiteren Tonfall nicht ein. »Kann ich dich um etwas bitten, Len?«
    Er beugte sich vor und nahm ihre behandschuhten Hände in die seinen. »Alles, Grace, das weißt du doch.«
    »Auch wenn«, ihre Brauen zogen sich zusammen, und sie schluckte, »auch wenn ich genau weiß, dass es zu viel verlangt ist und dass es dich und auch mich in große Gefahr bringen könnte?«
    Seine Daumen rieben über ihre Handrücken. »Auch dann, Grace. Schieß los.«
    Grace sah noch einige Herzschläge lang auf das grüne Surrey hinaus, dann wandte sie sich wieder zu Leonard hin. »Bring mich in den Sudan, Len. Nach Omdurman.«

III
    Die diamantene Zisterne
    Die Erde brennt mit dem unstillbaren Durst der Ewigkeit,
und am stahlblauen Himmel verhüllt nur selten eine Wolke
den unerbittlichen Triumph der Sonne.
    WINSTON CHURCHILL

38
    Am schlimmsten war das Aufwachen.
    Es gab diesen Moment des Heraufdämmerns aus dem viel zu kurzen bleiernen Schlaf, einige Wimpernschläge köstlichen Nichtwissens, eines Daseins in einem grauen Niemandsland, in dem er kein Gefühl dafür hatte, wer er war noch wo er sich befand. Eine Art Schwebezustand zwischen den Welten. Beinahe ein Glücksgefühl.
    Bis der Muezzin von Omdurman zum Gebet rief. Klänge, die Jeremy in Cairo so gern gehört hatte und die ihm nun so verhasst waren. Denn dieser Singsang zerstörte das beruhigende Nichtwissen und stieß ihn in eine Wirklichkeit, die nichts anderes war als die Hölle. Mit dem Gebetsruf hob das Schnaufen und Stöhnen an, das Scharren sich regender und sich streckender Leiber. Hunderte waren es, hier im Saier , im Gefängnis von Omdurman, jeden Abend hineingetrieben wie Vieh in den Stall, eingepfercht in einem rohen, viel zu kleinen Ziegelbau, in dem sich die Miasmen schwitzender Leiber stauten und der Gestank der Exkremente, die den Boden bedeckten. Herr über den Saier , nach ihm so benannt, war ein muskelbepackter Riese von einem Mann namens Idris es-Saier, dessen Haut blauschwarz glänzte und dem die Grausamkeit, für die er gefürchtet war, ins grobe Gesicht geschrieben stand. Drei Dutzend Wärter unterstanden ihm, und sie waren es, die unter Gebrüll und unter dem Knallen ihrer kurbashs die Gefangenen vor Tagesanbruch wieder hinaustrieben.
    Jeremy setzte sich aus seiner kauernden Haltung auf und rieb sich über die schmerzenden, geschwollenen Beine, dann erhob er sich langsam. Sosehr er sich nach frischer Luft sehnte, so wenig war er darauf erpicht, sich in der Menge vorzudrängeln, die sich träge der Türöffnung zuschob. Es gab eine genau festgelegte Hackordnung im Saier , und wer absichtlich oder aus Unwissenheit dagegen verstieß, musste damit rechnen,

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