Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
nicht einmal verdenken. Jeremy ...« Sie schluckte hart. »Bei Jeremy hatte ich irgendwann das Gefühl, er sieht wesentlich mehr in mir als die meisten Menschen. Mehr als nur ein hübsches Gesicht. Als ob – als ob er mich besser kennen würde als ich mich selbst.«
Mrs Danvers streichelte Grace’ Wange. »Spätestens mit dem heutigen Tag hätte ich ihm meinen Segen gegeben. Von ganzem Herzen.« Ihre Brauen fuhren kurz hoch, und ihr Mund kräuselte sich. »Nicht dass er sich jemals durch ein Ja oder ein Nein meinerseits von irgendetwas hätte abhalten lassen.«
Grace lachte leise.
»Ich lasse Sie jetzt noch ein bisschen allein. Allein mit Jeremy.« Sie rieb liebevoll über Grace’ Hand und stand auf. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um. »Möchten Sie vielleicht zum Abendessen bleiben?«
»Sehr gern, Mrs Danvers.«
»Sagen Sie ruhig Sarah zu mir.« Sie zögerte und fügte dann leise hinzu: »Und möchten Sie vielleicht heute Nacht hier schlafen anstatt in einer Pension? Hier«, sie deutete auf das Bett, »in diesem Zimmer?«
Grace blickte sie erschrocken an.
»Nur wenn Sie wollen, natürlich. Und keine Sorge, Sie nehmen mir dadurch nicht das Andenken an meinen Sohn.«
Grace sah sich um, sah auf das Bett, auf dem sie saß, legte ihre Hand auf die Zudecke und nickte schließlich. »Ja. Ich glaube, das würde ich sehr gern.«
»Ich lege Ihnen eine Decke und ein Kissen auf das Kanapee drüben. Falls Sie es heute Nacht hier doch nicht aushalten.«
»Danke, Sarah. Vielen Dank.«
Sarah Danvers wandte sich noch einmal um, als Grace leise ihren Namen rief.
»Sarah ... Glauben – glauben Sie, dass man es spürt, wenn einem geliebten Menschen etwas zustößt?«
Jeremys Mutter dachte kurz nach. »Das erzählt man sich immer, nicht wahr? Das ist auch eine sehr berührende Vorstellung.« Sie atmete tief durch und strich über die Taille ihres Kleides. »Vielleicht bin ich dafür zu wenig empfindsam oder habenie genug geliebt – aber ich habe es nie gespürt. Weder als mein Mann im Krieg war noch jetzt bei Jeremy.«
Grace verschränkte die Finger im Schoß. »Ich glaube, das ist es, was meine Schwester langsam in den Wahnsinn treibt. Sie ist überzeugt, sie hätte es spüren müssen, als Simon ... als Simon starb, und jetzt fühlt sie sich schuldig, dass dem nicht so war. Denn obwohl dieser 17. Januar so großes Leid über uns alle gebracht hat, war es für uns ein ganz gewöhnlicher Tag. Bis wir eben die Nachricht erhielten.« Offen sah sie Sarah Danvers an. »Glauben Sie, dass Jeremy noch am Leben ist?«
Der Mund von Jeremys Mutter spannte sich an. »Das Ministerium hat mir mitgeteilt, dass seit Abu Klea vier Männer vermisst werden. Drei Soldaten und Jeremy. Mein Verstand sagt mir, dass sie tot sein müssen, denn wo sollten sie denn auch sonst geblieben sein? Aber tief in meinem Herzen – in meinem Herzen hoffe und bange ich weiter, auch wenn ich mir jeden Tag sage, dass es klüger wäre, damit aufzuhören.«
In dieser Nacht, auf dem knarzenden Bett mit den quietschenden Sprungfedern, das einmal Jeremys gewesen war, fand Grace keinen Schlaf. Sie hielt das Kissen umklammert, als wäre es Jeremy, und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, es nicht mit ihren Tränen zu tränken, scheiterte sie daran, so nah fühlte sie sich ihm, und die Sehnsucht, der Schmerz waren fast unerträglich.
Als sich die Nacht zurückzog und sich das erste helle Morgenlicht über den spitzgiebeligen Leib der Kathedrale von Lincoln legte, hatte Grace einen Entschluss gefasst.
Gleichgültig ließ Grace auf der Rückfahrt die Landschaft an sich vorüberziehen. Mechanisch stieg sie in London aus, bewegte sich wie eine aufgezogene Gliederpuppe durch die Stadt und nach Waterloo, wo sie in den Zug der London & Southwestern Railway stieg, der sie wieder nach Süden brachte. Die sanften Landstriche von Surrey drangen kaum zu ihr durch, und sie nahmauch kaum wahr, als der Zug bei Weybridge hielt, danach über die Brücke ratterte, die sich über den Wey spannte.
»Guild-fooord! Nächster Halt Guild-fooord!«
Erst der Ruf des Schaffners ließ sie hochschrecken, und hastig griff sie nach ihrer Tasche und eilte auf den Gang hinaus.
»Danke sehr.« An der Hand des Schaffners stieg Grace die Eisenstufen hinab, auf den dampfverhüllten Bahnsteig vor dem Backsteinbau des Bahnhofs, blickte sich suchend zwischen den Menschen um.
»Grace!« Leonard kam winkend auf sie zugelaufen, umarmte sie zur Begrüßung.
»Hallo, Len. Danke, dass du
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