Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
geschlossenen Fensterläden. Die sonnengrelle Hitze des Nachmittags blieb ausgesperrt, und dennoch war die Luft stickig, legte sich dampfig auf die Haut und zog klebrig in die Lungen. Grace hatte sich auf dem niedrigen, wackeligen Bett ausgestreckt und wischte sich mit dem Unterarm über die schweißnasse Stirn. Laken und Kissen waren zwar sauber, doch sie rochen trotzdem muffig, so, als hätten sie zu lange in einer Kiste gelegen. Ihre Augen wanderten über die unebene Decke, die nackten Wände, den Stuhl und den Tisch aus rohem Holz mit dem angeschlagenen Krug und der Schüssel darauf. Das Badezimmer befand sich draußen auf dem Gang und war ebenfalls äußerst einfach gehalten. Doch Grace beklagte sich nicht. Sie wollten weitab von anderen Reisenden aus Europa wohnen, und sie wollten vor allem billig leben; schließlich würden sie geraume Zeit mit ihrer Barschaft auskommen und sich auf das Nötigste beschränken müssen.
Von draußen drangen Stimmen herauf, ein fortwährendes Wallen und Brausen und Summen, durchsetzt von einzelnen schallenden Rufen, von Gelächter. Sie stand auf und tapste auf nackten Füßen zum Fenster, öffnete die hölzernen Läden einen Spalt und spähte auf die Gasse hinunter.
Menschen schoben sich hindurch, bronzehäutige Männer in langen weißen, mattblauen und erdfarbenen Gewändern, manchmal mit einer formlosen schlammbraunen Jacke darüber und mit Pantoffeln an den Füßen oder barfuß. Auf dem kurz geschorenen Haar trugen sie einen Fez, ein kleines Käppchen oder eine Art Mütze, die an einen zu kleinen Turban erinnerte. Einige schleppten Säcke oder zogen einen Karren mit aufgetürmten Kohlköpfen hinter sich her; andere standen einfach nur da wie die Männer vor dem kleinen Geschäft gegenüber. Unter dem Erker aus Holz mit seinem geschnitzten engmaschigen Gitter waren hölzerne Läden vor einfachen Öffnungen in der abbröckelnden Hauswand zurückgeklappt, und auf wackelig aussehenden Brettergestellen standen flache Körbe mit Linsen und Bohnen und Tontöpfe mit gewölbtem Deckel; dahinter waren Säcke und Kisten gestapelt. Es war kaum auszumachen, wer dort Lebensmittel verkaufte, wer Kunde war und wer einfach nur Zuschauer. Nur wenige Frauen waren zu sehen, und diese hatten alle ihr Haupt verhüllt, manche bis zur Nasenspitze, und Kinder sprangen in lockeren Gewändern umher, die aussahen wie Nachthemdchen. Eines dieser Kinder lief geradewegs in den gewaltigen Bauch einer dicken Frau hinein, die ein Tablett mit aufgeblähten Brotfladen geschultert hatte, und erntete dafür eine kräftige Backpfeife und einen Schwall Schimpfworte, bevor die Frau sich wieder in Bewegung setzte. In ihrem watschelnden Gang, schwankend wie eine Galeone auf hoher See, hielt sie auf das Ende der Gasse zu, an dem ein in verblichenem Ziegelrot und Ockergelb quer gestreifter Turm aufragte. Und über allem wogten die geschmeidigen, kehligen Laute des Arabischen, die sich auf angenehme Weise in Grace’ Gehör schraubten.
Cairo. Ich bin in Cairo. Allein der Name ließ ihr das Herz groß und weit werden.
Dabei hatte sie kaum etwas von der Stadt gesehen, seit sie mit dem Zug aus Alexandria hier eingetroffen waren, kaum mehr als flüchtige Bilder von einer umtriebigen, lärmenden, fremdartigen Stadt in den Farben von Staub und Sand unterhalb der auf einem Bergrücken thronenden Zitadelle, eine trutzige Festung, hinterderen Mauern die schlanken Minarette in den emailleblauen Himmel stachen und die Kuppeln einer Moschee aufglänzten. Ein Wagen hatte sie hierhergebracht, und das letzte Stück waren sie zu Fuß gegangen. Seither bestand Grace’ ganze Welt aus diesem Hotelzimmer und aus den Gassen in der Umgebung, in denen sie mit Leonard gewesen war, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen oder um etwas zu essen. Seit Tagen schon; Grace hatte aufgehört, sie zu zählen. Die Tage, die sie untätig hier, in diesem Zimmer, verbrachte, während Leonard sich nach einem dragoman , einem einheimischen Reiseführer, erkundigte, der sie in den Sudan bringen sollte. Bislang vergeblich; niemand schien freiwillig in den Sudan reisen zu wollen, noch nicht einmal gegen Geld.
Tage, die verlorene Zeit waren und die an Grace’ Nerven zerrten, und doch war ihr nicht danach, sich mehr von der Stadt anzusehen, vielleicht die Pyramiden, die Kaserne von Qasr el-Nil, die Insel von Gazirah, all die Orte, an denen Jeremy gewesen war, obwohl Leonard es ihr mehrmals vorgeschlagen hatte. Sie wollte sich kein noch so kleines Vergnügen
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