Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
gelegt und gelacht. Mein Leib ruht dann vielleicht, hatte sie geantwortet, aber mein Geist, meine Phantasie, meine ganze Seele – die sind in Bewegung beim Lesen. Weil ihm das nötige Geld fehlte für den Baudelaire, hatte er seine eigene Ausgabe genommen, Jahre zuvor antiquarisch erworben, die er beinahe auswendig kannte, hatte etwas für Grace hineingeschrieben und den Band in Papier gewickelt. Ohne Licht kein Schatten. Ohne Schatten kein Licht. Das Strahlen in ihren Augen hatte ihn glücklich gemacht, dort, auf der Wiese am Waldrand, und die Art, wie sie mit den Fingern über den Einband gefahren war, hatte ihn hoffen lassen, dass sie spürte, wie sehr sie damit einen Teil von ihm in Händen hielt. Grace. Grace.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Bald würde es Zeit sein für eine karge Mahlzeit aus Getreidesuppe und Fladenbrot und für das Mittagsgebet. Nicht genug Nahrung, nicht genug Rast für den Körper, der unter dieser Plackerei aushalten müsste bis Sonnenuntergang, bis es nach dem abendlichen Gebet zurück in den Saier ging.
Während Jeremy seinen Eimer füllte, ließ er die Augen über den Fluss wandern. Hier war schwer auszumachen, wer ein Gefangener war und wer einfach nur ein Sklave, der am gegenüberliegenden Ufer Ziegen hütete oder knorriges Holz sammelte.Viele Menschen gingen am Nil ihrer Beschäftigung nach, nicht nur die Viehhüter, sondern auch verschleierte Frauen und Mädchen, die Wasser holten, Wäsche wuschen oder ihre Tiere tränkten. Jeremy hatte ein paar Mal beobachtet, wie ein Mädchen oder eine Frau einen der Gefangenen anlockte und einfach mit ihm fortging, ohne dass die Wachen es bemerkten und ohne dass sie einschritten, und keiner von ihnen war je wieder aufgetaucht. In Omdurman schien vieles ungeordnet und willkürlich. Jeremy hatte mitbekommen, dass Gefangene gegen Geld besseres Essen bekamen, sogar Fleisch, und dass sie Besuch erhielten oder den ganzen Tag im Schatten sitzen und den Koran studieren konnten. Mal schienen die Wachen überstreng, dann wieder nachlässig oder gleichgültig, ohne dass er einen Grund dafür erkennen konnte.
Er hob den Kopf, als er einen Blick auf sich spürte. Ein Mädchen oder eine junge Frau mit einer Hautfarbe wie stark aufgebrühter Tee stand drüben am Ufer, bis über die Knöchel im flachen Wasser, und Jeremys Herz schlug schneller. Sie sah sich verstohlen nach allen Seiten um, dann lächelten ihre Augen über dem Schleier, und ihre Hand machte eine kleine, winkende Geste. Komm. Komm her.
Auch Jeremy spähte umher, bevor er wieder zu dem Mädchen sah und sich mit dem Daumen an die einst so starke und jetzt so magere und knochige Brust tippte. Ich?
Sie nickte und winkte ihn erneut zu sich heran. Noch einmal ließ Jeremy die Augen umherschweifen, dann tat er den ersten vorsichtigen Schritt, dann den zweiten. Nichts geschah. Schritt um Schritt watete er ins Wasser hinein. Holt mich doch , dachte er in wildem Aufbegehren. Holt mich doch, aber tötet mich dann auch gleich. Kühl schlug das Wasser gegen seine Knöchel, durchnässte seine Hosenbeine. Wusch-wusch , machten seine Schritte durch den Nil, wusch-wusch. Schritt für Schritt durchquerte er das Wasser und langte unbehelligt drüben an.
Am anderen Ufer nahm das Mädchen ihn beim Ellenbogen und führte ihn aufs Trockene. Noch einmal sah sie hinüber zuden Gefangenen, dann trieb sie mit ihrem Stecken nicht nur ihre Ziegen, sondern auch Jeremy vor sich her.
Ich bin frei , rief es verwundert in ihm. Ich bin frei, und es war so einfach.
Er trottete mit den Ziegen mit, die ihren Weg kannten. Irgendwann schob sich das Mädchen neben ihn und strahlte ihn von unten herauf an. »Du Deutsch?«, radebrechte sie.
Jeremy schüttelte den Kopf. »Englisch«, antwortete er.
»Ah, Englisch«, wiederholte sie in seiner Muttersprache. »Englisch Mann gutt«, gab sie kichernd von sich und tätschelte seinen Arm.
»Woher kannst du Englisch?«
»Ich Arbeit in Khartoum.« Ihr Kopf unter dem Schleier ruckte nach Osten.
Sie gingen auf eine Ansammlung von niedrigen, strohgedeckten Lehmhütten zu, zwischen denen struppige Hühner umherliefen und in den scheinbar leeren Boden pickten. Mit lockenden Rufen sammelte das Mädchen die Ziegen um ihr aufgeschüttetes Futter, bevor sie Jeremy in eine der Hütten schob. Er musste sich tief bücken, um durch den Einlass zu passen. Dämmrig war es hier, und einfallende Lichtstrahlen tupften ein Muster aus hellen Punkten über die Bodenmatten, auf die das Mädchen Jeremy
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