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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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niedergetrampelt oder zusammengeschlagen zu werden. Es hatte Nächte gegeben, in denen gellende Schreie durch den Raum gepeitscht waren, die dann plötzlich abbrachen, und am nächsten Morgen hatten die Wärter die Gefangenen den zerschundenen Leichnam hinausschleppen lassen. Als Weißer stand Jeremy außerhalb dieser Rangordnung, und meistens wurde er in Ruhe gelassen, was er als Glücksfall verstand, und er tat seinerseits nichts dazu, diesen Zustand zu ändern. Er war zufrieden, einen kleinen Winkel in einer Ecke des Saier für sich zu haben, den ihm auch niemand streitig machte.
    Fast alle Gefangenen waren schon draußen, und auch Jeremy bewegte sich, wegen der Fußeisen nur mit kleinen Schritten, auf die Türöffnung zu. Schuhe hatte er schon lange keine mehr, doch wenigstens besaß er noch seine Hosen, wenn sie auch fadenscheinig und löchrig geworden waren. Alles andere hatte man ihm genommen, die Überreste seines Uniformrocks und seines Hemdes und auch das Bild von Grace, das er die ganze Zeit bei sich getragen hatte, und ihm stattdessen eine djibba , das Gewand eines Derwischs, dafür gegeben.
    Noch im Dunkeln wurden sie aus der zariba , der Einfassung des Gefängnisses aus Dornengestrüpp, hinausgetrieben, und unter dem Klirren und Scheppern der eisernen Ketten marschierten sie zum Fluss hinunter, der nur wenige Yards entfernt war. Dort stellten sie sich in einer Reihe auf und wuschen sich in der rituellen Abfolge die Hände und die Unterarme, die bärtigen Gesichter und die Ohren und die Füße, spülten Mund und Nase aus und fuhren sich mit den nassen Händen durch das verfilzte Haar.Dann wandten sie sich nach Osten, gen Mekka, knieten sich hin und beteten, mit dem Oberkörper im Rhythmus der Gebetsverse auf und nieder wippend und mit der Stirn den Boden berührend. Jeremy gab sich den Anschein, als nähme er ebenso inbrünstig teil wie all die anderen Gefangenen, froh um die Bewegung, die das Blut wieder besser durch seine steifen Glieder kreisen ließ, ein unhörbares, unsinniges Murmeln auf den Lippen.
    Als sich die glühende Sonnenscheibe über den Horizont schob, standen sie wieder auf und begannen ihr Tagwerk: Schlamm und Erde zusammenkratzen und in ledernen Eimern zur nahe gelegenen Ziegelbrennerei schleppen, auf dass das Gefängnis bald eine ordentliche Mauer erhielte, von der bereits ein kleines Stück stand, und auf dass Omdurman zu einer richtigen Stadt werde, die des Khalifa würdig sei.
    Jeremy hatte die Schüsse gehört, aus der Richtung, in der Khartoum lag, wenige Tage nachdem er so knapp seiner Hinrichtung entgangen war. Warum er davongekommen war, das hatte er bis heute nicht begriffen, und manchmal wünschte er sich beinahe, er wäre an jenem Tag gestorben. Der ohrenbetäubende Jubel in der Stadt hatte nur den Schluss zugelassen, dass Khartoum gefallen war und dass der Mahdi gesiegt hatte. Hoffnung war noch einmal aufgekeimt in ihm, als großes Wehklagen anhob und der Mahdi vor den Augen der Gefangenen hier in Omdurman feierlich zu Grabe getragen worden war. Doch seit der Khalifa hier herrschte, hatte Jeremy keine Hoffnung mehr. Niemand würde hier nach ihm suchen, weil niemand wusste, dass er hier war. Wahrscheinlich dachten sie, er sei tot. Auch Grace?
    Sein Wille verbot ihm, an sie zu denken, während er Eimer um Eimer füllte und vom Fluss hinauftrug. Die Vorstellung, sie niemals wiederzusehen, war unerträglich und drohte ihn in die Knie zu zwingen. Und doch stahl sich ihr Name immer wieder in seine Gedanken, während er im Geiste Baudelaire memorierte, um nicht den Verstand zu verlieren. Mein Geist, du fliegst so rege. Und wie ein guter Schwimmer sich in die Fluten stürzt. Durchziehst du freudig die weite Unendlichkeit. Mit unbeschreiblich kraftvoller Wonne. Grace. Grace. Wie konnte er auch an Baudelaire denken, ohne gleichzeitig Grace vor sich zu sehen? Etwas Besonderes hatte er ihr schenken wollen, zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, diesem besonderen. Etwas, das ihr sagen sollte, was er für sie empfand, wenn er sich schon schwertat, es in Worte zu fassen. Es sollte ihr etwas bedeuten, ihr, die materiell so gut gestellt war und die sich an schönen Dingen freute, ohne dass ihr Glück davon abhing. Ihr, die Bücher ebenso liebte wie draußen zu sein, und die nicht in eng gesteckten Grenzen dachte. Wie kann jemand , hatte er sie einmal im Scherz gefragt, der so gar nicht zum Stillsitzen geschaffen ist, die Ruhe für ein Buch aufbringen? Sie hatte den Kopf in den Nacken

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