Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
gönnen auf dieser Reise, die keine Vergnügungsreise war und von der kaum jemand wusste. Nur Becky und Ada.
Das kannst du nicht machen! , hatte sie die Stimme ihrer Schwester noch im Ohr, und sie sah sie vor sich, wie sie entsetzt die Augen aufriss. Du kannst mich hier nicht allein lassen! Ein ungeheurer, unvermuteter Zorn war aus Ada, der kleinen, sanften, vor Trauer kranken Ada, hervorgebrochen. Du, du, du – immer geht es nur um dich! Solange ich denken kann, dreht sich immer alles nur um dich! Grace, die schöne Grace, der alles in den Schoß fällt, der immer alles gelingt, die jeder bewundert und liebt!
Vielleicht war es das Blut gewesen, das in Grace’ und Adas Adern floss, das an diesem einen Tag Ende August übergekocht war, nach all den Jahren, in denen die Mädchen in zärtlicher Liebe aneinander hingen und sich kaum je gezankt hatten. Dieses Blut, das halb englisch war, einen Captain zur See und über mehrereGenerationen hinweg Männer der Armee hervorgebracht hatte, und halb irisch und leicht in Wallung geriet. All die Jahre hatte dieses im Grunde hitzige Blut friedlich in ihnen geschlummert, durch ihr Geschlecht im Zaum gehalten, besänftigt durch die kleine beschauliche Welt von Shamley Green, die von Wärme und Zärtlichkeit durchdrungen gewesen war und die es so nicht mehr gab.
Das ist doch gar nicht wahr! , hatte Grace, selbst von hoch aufschießendem Zorn gepackt, zurückgeschrien. Um dich hat sich doch immer alles gedreht! Grace, sei bitte leise, Ada hat doch so einen leichten Schlaf! Nicht, Grace, Ada hat Husten! Ada hat Ohrenschmerzen! Nicht so wild, Grace, deine kleine Schwester bekommt Angst!
Ich hasse dich! , hatte Ada daraufhin gebrüllt. Ich hasse dich! Krachend war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen. Am nächsten Tag war Grace dann fortgegangen.
Grace biss sich auf die Lippen und zwang die Tränen hinunter, die sie hinter ihren Augen brennen fühlte. Im nächsten Augenblick machte ihr Herz einen Sprung, als sie Leonard die Gasse heraufkommen sah, barhäuptig, sein blondes Haar glänzend und sein Sakko lässig über der Schulter. Lächelnd nickte er hierhin und dorthin; nicht weil er jemanden kannte, sondern weil das die Art war, wie er durchs Leben ging. Er verschwand unter dem Fenster, und wenig später konnte sie ihn die Treppe heraufkommen hören, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Es klopfte, und auf ihren Ruf hin steckte er den Kopf zur Tür herein. »Hallo, Grace!« Anerkennend pfiff er durch die Zähne und grinste breit, als er eintrat und die Tür hinter sich schloss. »Steht dir gut!«
Grace sah an sich hinab, auf Leonards Hemd und die Hosen von ihm, deren Gürtel sie eng um ihre schlanke Taille gezurrt und deren Beine sie bis zu den Knöcheln hochgekrempelt hatte. »Du hattest recht – ist eindeutig bequemer und sicher auch angemessener für das, was wir vorhaben!«
Ihr Blick fiel auf ihre Reitstiefel in der Ecke und auf ihre Reisetasche daneben, aus der eine Wolke aus Rüschen hervorquoll. Die Reisetasche, die Becky geschickt durch einen Nebeneingang in den Hof hinaus und in den dort wartenden Wagen schmuggeln konnte, während Leonard in der Eingangshalle ein paar scherzhafte Worte mit Lady Norbury wechselte, ganz so, als holte er Grace tatsächlich nur zu einer Spazierfahrt ab. Nur mit leichtem Gepäck war Grace aufgebrochen, hatte nur so viel eingepackt, um während der Überfahrt von England nach Alexandria das Bild einer wohlerzogenen jungen Lady wahren zu können und keine allzu große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Alles andere, woran ihr Herz hing, Jeremys Briefe, ihren Baudelaire, seinen Rimbaud, hatte sie zu Hause lassen müssen, und die Reisetasche mit fast allem, was darin war, würde später hierbleiben; in den Sudan würde sie nichts davon mitnehmen können.
Lächelnd trat Leonard zu ihr, warf das Sakko über die Stuhllehne. »Ich hab immer recht!« Er nahm ihre Linke und hielt sie hoch. »Der steht dir auch gut!« Ein schmaler Ring aus Gold mit einem kleinen blauen Stein zierte ihren Ringfinger; Leonard hatte ihn ihr unter allerhand Witzeleien angesteckt, um ihnen beiden den Anschein eines jungvermählten Paares auf Abenteuerreise zu geben.
»Grace«, sagte er leise, »was ist? Du siehst so traurig aus.«
»Mir geht der Streit mit Ads nicht aus dem Kopf«, erwiderte sie im Flüsterton.
»Ach was«, winkte er ab und legte den Arm um sie. »Bis wir wieder zu Hause sind, ist das längst vergessen!« Er sah sie erwartungsvoll von der Seite
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